Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kreuzzug

Kreuzzug

Titel: Kreuzzug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Ritter
Vom Netzwerk:
gute Miene zum bösen Spiel zu machen.
    Nun aber war es dem österreichischen Moderator und ihm erspart geblieben, das Trauerspiel live vor Millionen Zuschauern des deutschen öffentlich-rechtlichen Fernsehens aufzuführen. In Ermangelung des »kleinen Chinesen« hatte der Österreicher Thiens Freund Simmerl Hinterstocker aus dem Stegreif interviewt. Der antwortete in einem derartig originalen Partenkirchnerisch, dass nicht einmal der für Brauchtumsfragen als papstgleich angesehene Moderator ein Wort verstand. Der sonst nicht gerade auf den Mund gefallene Österreicher kam ins Stottern wie noch nie in seiner Karriere, was dem Interview zu ungewollter Komik verhalf. Das Gespräch zwischen Simmerl und ihm wurde später etliche Male in den Pannen-Sendungen und den großen TV -Jahresrückblicken wiederholt. Simmerl wurde damit zu einer Ikone des echten Bairischen Dialekts und durfte als »lebendiges Sprachfossil« in den Ferien sämtliche Goethe-Insitute der Welt besuchen.
    Vier Jahre später, ab seinem sechzehnten Lebensjahr, nachdem er auch passabel die Diatonische zu spielen gelernt hatte, wurde Simmerl Dauergast in den Fernsehsendungen und auf den Tourneen des dicken schwitzenden Österreichers. Seine Platten erreichten die höchsten Plazierungen der Volksmusik-Charts, und in drei Vorabendserien erhielt er Nebenrollen. Seine Ehe mit einer Brasilianerin, die sich drei Wochen nach der Hochzeit in der Regenbogenpresse als transsexuell outete, wurde in Rom offiziell annulliert, da Simmerl durch Haarwurzelproben nachweisen konnte, im Zeitraum der Verehelichung ständig im Kokainrausch und daher unzurechnungsfähig gewesen zu sein. Nach dieser Geschichte zelebrierte Simmerl in denselben bunten Illustrierten seine Läuterung und verkaufte seinen kalten Drogenentzug als Homestory.
    Danach ließ er die Welt wissen, dass er statt Simmerl nun wieder Simon heiße. Als Zeichen seines Erwachsenwerdens verkaufte er an seinem zweiundzwanzigsten Geburtstag seinen gaggerlgelben Porsche Carrera zugunsten eines dunkelblauen Maserati mit vier Türen, in dem er im Sommer darauf an einer Felswand oberhalb von Riva am Gardasee zerschellte.
    Thien fand es befremdlich, dass ihm diese Geschichte ausgerechnet jetzt durch den Kopf ging, da er selbst in Lebensgefahr schwebte. Seit bestimmt fünf Jahren hatte er nicht mehr an den armen Simmerl gedacht. Welches psychische Phänomen, welche Assoziationskette war daran schuld, dass er es jetzt tat? Oder sollte er einfach den Schluss daraus ziehen, dass ihm sein unbezwingbarer Harndrang im Eisstadion vor über fünfzehn Jahren ein Trachtenmusiker-Schicksal mit Kokain, brasilianischer Frau und Maserati erspart hatte? Simmerl war sozusagen an dessen Spätfolgen gestorben. Er hatte diesen Auftritt mit dem Österreicher überlebt. Vielleicht war sein Harndrang eine gute Überlebensstrategie. Dann sollte er ihm nachgeben.
    Wenn er aber nicht den Uringestank verstärken wollte, der sich im Wagen schon seit zwei Stunden ausbreitete, musste er raus und in den Tunnel pinkeln. Er fragte sich, warum noch niemand vor ihm gemusst hatte. Und was wohl passieren würde, wenn er als Erster gehen würde. Wie viele ihm nachfolgen würden.
     
    Er löste die Hand von seinem Kamerarucksack unter der Bank und schob ihn mit den Fersen vorsichtig wieder nach hinten unter den Sitz bis ganz an die Wand. Dann wartete er, bis einer der beiden Aufpasser zu ihm sah. Er fixierte ihn kurz und hob dann langsam die Hand. Der Mann erkannte, dass Thien etwas von ihm wollte. Er stellte sich vor Thiens Sitzbank und reckte auffordernd das Kinn vor. Thien nahm die erhobene Hand wieder nach unten und deutete mit dem Zeigefinger auf seine Körpermitte. Dazu machte er einen hilfesuchenden Gesichtsausdruck.
    Der Maskierte nickte. Dann wies er mit dem Lauf seiner Kurzwaffe auf die nächste Seitentür. Thien erhob sich, drückte sich an seinen Sitznachbarn vorbei und durch den Gang in Richtung Tür. Der Bewacher blieb ganz knapp hinter ihm und drückte ihm die Mündung in den Rücken. Sollte der Mann jetzt stolpern oder einfach nur aus Lust am Töten den Zeigefinger krümmen, wäre Thien tot, bevor er den Schuss hören konnte.
    An der Tür blieb Thien stehen. Der Mann stellte sich neben ihn und blickte in Richtung des vorderen Zugendes, wo die Mehrzahl seiner Mittäter stand. Thien zeigte seine Überraschung mit keiner Miene, als der Geiselnehmer nach vorne rief: »Vengo con un invitado!« Thien hätte nie damit gerechnet, dass die Terroristen

Weitere Kostenlose Bücher