Kreuzzug
verbrannt. Und er wusste auch, dass er dann in enormen Schwierigkeiten steckte, denn in Höhlen herrschte eine Dunkelheit, wie man sie sich als Bewohner der Erdoberfläche nicht vorstellen konnte, absolute, komplette, schwärzeste Finsternis. Keinen Meter würde er sich dann vor- oder zurückbewegen können, ohne Gefahr zu laufen, in ein Loch oder einen Absturz hinunterzufallen, von denen es so einige in den Gängen gab.
Er hatte also eine Entscheidung treffen müssen, damals, mit vierzehn Jahren: Zurück durch den überschwemmten Gang, die schmale Stelle durchtauchen, die er eben erst trocken nur mit Mühe und Not und mit reichlich Durchzwängen hinter sich gebracht hatte? Was wäre, wenn er im Wasser nicht mehr so guten Halt an den Felszacken fand, um sich daran nach vorne zu ziehen? Oder wenn er an einem der Zacken und Vorsprünge hängen bliebe? Dann würde er ersaufen wie die jungen Katzen eines ungewollten Wurfs, die die Bauern in einen Sack steckten, um sie in den Weiher zu werfen. In unmittelbarer Nähe seiner Freunde, die vielleicht noch die Luftblasen würden aufsteigen sehen, wenn das Wasser seinen letzten Atemzug aus den Lungen drückte.
Oder sollte er nach vorn, weiter in die unbekannte Höhle? In den zwei Stunden, in denen er noch Licht hatte, musste er dann einen Ausgang finden, oder er würde in der Finsternis gefangen sein.
Die meisten Menschen hätten sich für die dritte Alternative entschieden: sitzen bleiben und warten, was passierte. Ob das Wasser vielleicht abfloss. Ob von irgendwoher Hilfe kam. Thien war auf diese Option gar nicht gekommen. Er entschied sich für den Weg nach vorn und kraxelte weiter in die Höhle hinein.
Nach einer Stunde entdeckte er einen Felsendom, der, wie sich später herausstellte, noch auf keiner Höhlenkarte verzeichnet war. Und eine weitere halbe Stunde später erblickte er Licht. Es sickerte durch einen Ausgang, den eine im Sturm umgekippte Bergkiefer mit ihrer weit verzweigten Flachwurzel freigegeben hatte.
Er krabbelte ins Freie, nur dreihundert Meter von dem Einstieg entfernt, durch den sie in die Höhle eingedrungen waren, und begab sich durch diesen Einstieg hindurch erneut in die Höhle. Seine Kameraden staunten nicht schlecht, als er ihnen von dort entgegenkam, wo sie gerade hinauswollten, um Bergwacht und Polizei zu alarmieren.
Als die Forscher des Werdenfelser Höhlenklettervereins die von ihm entdeckten Gänge kurz darauf vermaßen, stellten sie fest, dass der Ausgang, den Thien gefunden hatte, erst in allerjüngster Zeit entstanden war. Wie Nachfragen beim Staatsforst ergaben, hatte die alte Bergkiefer drei Tage vor dem Ereignis noch gestanden. Das Unwetter, das die Höhle überflutete, hatte wahrscheinlich mit seinen heftigen Böen den einhundert Jahre alten Baum umgerissen.
So, wie er aus dieser Höhle herausgekommen war, würde er auch aus diesem gottverdammten Tunnel herauskommen: mit Zielstrebigkeit und einer gehörigen Portion Glück. Die erste Geiselübergabe – oder Geiselerschießung – in vier Stunden war seine Chance, denn dann musste etwas passieren. Sie würden eine Geisel auswählen, würden sie wahrscheinlich vor die Kamera zerren und dort erschießen. Dann konnte er vielleicht die Unruhe, die dadurch entstehen würde, nutzen. Und wenn nicht, dann eine Stunde später bei der nächsten Erschießung. Nur eines durfte nicht passieren: die Terroristen durften nicht ihn auswählen.
Er versuchte noch stärker als zuvor, keinem der Geiselnehmer einen Anlass zu geben, mehr als nötig auf ihn aufmerksam zu werden.
Zu diesen Bestrebungen passte überhaupt nicht, dass seine Blase schon wieder zum Bersten gefüllt war.
Kapitel dreiundsechzig
Bundeskanzleramt, 5 Uhr 30
D ie Kanzlerin legte den Telefonhörer auf. Das Ergebnis des Gesprächs war ihr bereits klar gewesen, als sie die Verbindung hatte herstellen lassen. Der amerikanische Außenminister hatte eine Freilassung von Gefangenen strikt abgelehnt. Er hatte es auch abgelehnt, die Angelegenheit als militärischen Angriff auf das Bündnis einzustufen. Eine »German affair« hatte er die Geiselnahme auf der Zugspitze genannt.
Die deutsche Regierungschefin war auf sich gestellt. Sie zog die Kostümjacke zurecht und ging mit gestrafften Schultern zurück in den Konferenzraum, in dem seit der letzten Botschaft der Entführer hektische Betriebsamkeit herrschte. Jeder der Krisenstäbler versuchte, seine Organisation zu beruhigen. Die leitenden Mitarbeiter der betroffenen Ministerien, der
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