Kreuzzug
vertragen und diese öffentlich gemacht hatten. Und vom sogenannten Witwenklatschen der Boulevard-Medien hatte sie auch die Nase gestrichen voll. Das gab es nach jedem größeren Lawinenunglück, wenn wieder mal einer ihrer Sportsfreunde nicht mehr nach Hause kam. Und, leider in letzter Zeit auch, wenn einer von Markus’ Kameraden in einem Sarg zurück in die Heimat kam.
Dass nun aber auch der
stern
solche Methoden anwandte, erstaunte sie doch etwas. Außerdem fand sie es noch ein bisschen verfrüht, sie in die Kategorie »Witwe« zu stecken.
»Ich versuche es Ihnen jetzt ganz einfach zu sagen, ohne dass Sie mir gleich ein Nein entgegenbrüllen oder auflegen. Bitte hören Sie sich meinen nächsten Satz genau an: Ich möchte, dass Sie sich mit Ski auf das Zugspitzplatt begeben und dort als Fotoreporterin für uns Bilder vom Geschehen machen.«
Sandra Thaler blieb die Luft weg. »Sie sind komplett verrückt!«
»Habe ich Ihnen schon erzählt, was wir pauschal dafür bezahlen?«
»Nein, das haben Sie nicht. Aber ich kann mir keine Summe vorstellen, für die ich das tun würde.«
»Denken Sie dabei noch fünf- oder bereits sechsstellig, Frau Thaler?«
»Werden Sie mal konkret, bitte.«
»Erzählen Sie mir erst, was es mit Markus auf sich hat.«
»Sie wissen gar nicht von ihm? Wirklich nicht?«
»Zugegeben: Nein.«
»Markus ist Zugführer bei den Mittenwalder Gebirgsjägern. Er ist seit dem Nachmittag auf dem Zugspitzgipfel, mit seiner ganzen Einheit.«
»Frau Thaler, ich bitte Sie, ab jetzt nur noch sechsstellig zu denken. Ich biete Ihnen 100 000 Euro pauschal für Ihren Aufstieg inklusive aller Fotos, die Sie dort schießen, egal, was dabei herauskommt.«
An Sandra Thalers Ende der Leitung wurde es still.
»Frau Thaler, sind Sie noch da? Frau Thaler?«
Kapitel einundsechzig
Waggon der Zugspitzbahn , 5 Uhr 03
I m Tunnel hörte man nur noch die Worte des Anführers während dessen Kameraauftritts, denn ansonsten war es mucksmäuschenstill. Wer im Waggon nicht schlief, verstand zumindest zum Teil, was der Mann dort vorn sagte. Thien genügte es. Er blinzelte ein »No way« hinüber zu seinem amerikanischen Freund Craig. Der brauchte nur mit skeptischem Blick kaum merklich den Kopf zu bewegen, und Thien wusste: Der Mann stimmte ihm zu. Thiens Bereitschaft zum Kampf stieg weiter an.
Vier Stunden – auch das hatte Thien gehört –, vier Stunden waren ein Witz. Kein Mensch konnte innerhalb von vier Stunden aus irgendeinem Gefängnis entlassen werden. In vier Stunden würde also eine der Geiseln dran glauben müssen.
Welch ein Alptraum.
Vier Stunden lang würde Thien eine Überlebenschance von zweihundert zu eins haben, um dann, eine Stunde später, wenn er es nicht war, der als Erster umgebracht wurde, erneut eine ähnliche Rechnung aufmachen zu können. Und eine Stunde danach wieder und dann erneut. So würden sie es machen: einmal pro Stunde eine Geisel erschießen, bis die andere Seite nachgeben würde. Dumm nur, dass sich die Chance des Einzelnen, ungeschoren davonzukommen, von Mal zu Mal verringerte. Und sie konnten das wirklich lange durchziehen. Ohne Angst haben zu müssen, von einem Spezialkommando angegriffen zu werden. Hier kam einfach niemand rein. Nicht einmal die Einleitung von Betäubungsgas würde etwas bringen, denn die Killer hatten sicher Gasmasken.
Positiv denken, Thien, positiv denken.
Der einzige Ausweg aus ausweglosen Situationen war, alle Gedankenkraft nach vorn zu richten. Das wusste Thien. So war es gewesen, als er mit vierzehn bei den Höhlenerforschungstouren im Estergebirge, von denen die Eltern um Himmels willen nichts hatten wissen dürfen, einmal durch eine vier Meter lange, äußerst enge Stelle gekrochen war, um den weiteren Weg zu erkunden. Nur er hatte durch den Durchschlupf gepasst, denn er war der schmalste ihrer Klettertruppe gewesen. Mit Mühe und Not hatte er sich durch den Fels gezwängt. Dann wurde ihm der Rückweg versperrt, denn plötzlich lief Wasser in die Höhle. Offensichtlich ging draußen gerade ein Unwetter nieder. Was in den mannshohen Gängen der Höhle nur für nasse Füße sorgte, wurde für ihn ein Problem, denn an der Stelle, an der die anderen nicht durchgekommen waren, staute sich das Wasser und überschwemmte den Gang in einer Länge von vier Metern bis zur Höhlendecke. Thien wusste nicht, wie lange das Wasser dort stehen würde, aber er wusste, dass sein Licht nur noch zwei Stunden lang reichte, dann wäre das Karbid in seiner Lampe
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