Krieg oder Frieden / Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens
Firma an das zuständige Ministerium, erhielt jedoch nie eine Antwort. Auch als er tagelang vor der Firma in Hungerstreik ging, änderte sich nichts. Als er endlich die Geschichte in einer Zeitung veröffentlichte, wurde ein Mordanschlag auf ihn verübt, den er glücklicherweise überlebte. Kurz danach wurde er von der Firma entlassen und bekam eine magere Rente. Auch als er an einem Herzleiden erkrankte, hatte er für die notwendige medizinische Behandlung kein Geld und starb verbittert.
Somaya musste die Universität und ihr Bruder die Schule verlassen, weil die Familie das Geld dafür nicht aufbringen konnte. Seitdem war es ein Tabu in der Familie, über Politik zu reden. Man einigte sich darauf, dass es unklug ist, sich gegen die Mächtigen aufzulehnen. Somaya musste niedrige Lohnarbeit verrichten, um sich über Wasser zu halten. In den 1990er Jahren erreichte eine Islamisierungswelle auch Ägypten. Ihr Bruder wollte sie zwingen, ein Kopftuch zu tragen, aber sie wehrte sich.
»Eines habe ich von meinem Vater geerbt: Dickköpfigkeit«, sagte sie lächelnd, während sie mit einem Besen die Verlagsräume kehrte.
Sie verliebte sich in einen liberalen jungen Ägypter, wurde schwanger und entschied sich, mit ihm aus Ägypten zu fliehen. Ihnen gelang die Flucht nach Italien. Dort nahm Somaya nach der Geburt Niedriglohnjobs an und arbeitete mehrere Schichten, bis sie mit ihrem Mann ein kleines Restaurant eröffnen konnte. Der jungen Familie ging es eine Zeitlang gut, bis der Ehemann seine beiden Brüder und deren Frauen nach Italien schmuggeln konnte. Plötzlich wurde es eng zu Hause, und die ägyptische Moral begann, sich im Haus durchzusetzen. Da seine beiden Schwägerinnen den Schleier trugen, wollte Somayas Mann, der in der Fremde immer religiöser wurde, dass auch seine Frau nun ein Kopftuch trüge. Somaya lehnte ab. War sie doch nach Italien gekommen, um diesen Kodexen zu entfliehen. Als der Mann sie dazu nötigen wollte, kam es zu einem schwerwiegenden Streit. Somaya nahm ihren siebenjährigen Sohn und flüchtete heimlich mit ihm nach Ägypten.
In Kairo lebte sie mit Mutter, Kind und Bruder in den Slums und arbeitete in einem Buchladen, um Schulgeld für den Kleinen zu verdienen. Wenige Monate später redete ihr Bruder auf sie ein, sie solle ein Kopftuch tragen, Ägypten habe sich verändert und das Viertel, in dem sie wohnten, sei noch konservativer geworden. Sie lehnte zunächst ab, musste aber einlenken, als ihre Mutter sie mehrfach darum bat. »Du kommst aus Europa zurück, und die Menschen hier beobachten dich besonders aufmerksam.« Somaya musste im Namen der Liebe zu ihrer Mutter ihre Hartnäckigkeit aufgeben und sich eine Kette um den Hals legen, wie sie sagte.
Ein Kompromiss-Kopftuch hat Somaya noch heute, keinen wirklichen Schleier. Nur die Haare bleiben verdeckt, nicht der Hals. Jeans trägt sie trotzdem noch. Mit der familiären Tradition, jeglicher politischer Aktivität fernzubleiben, musste sie im Sommer 2010 brechen. Sie nahm am ersten Protestmarsch gegen die Ermordung von Khalid Said teil. »Nicht aus politischer Motivation habe ich protestiert, sondern als Mutter. Ich dachte an meinen Sohn und an das, was ihm in diesem ungerechten Land zustoßen könnte.« Aber als sie mit anderen Ägyptern gegen die Gewalt und Ungerechtigkeit des Staates protestierte, erinnerte sie sich häufiger an ihren Vater und was ihm widerfahren war. Seit diesem Tag ist sie politisiert. Als sie am 28. Januar den Tahrir-Platz betrat, wollte sie ihn nicht mehr verlassen. Die Niederlage der Polizei sieht sie als Rache für die Erniedrigung ihres Vaters und für alle Ägypter, die unter der Gewalt des Staates leiden mussten. Sie übernachtete dort mehrere Tage, die schönsten Tage ihres Lebens.
Während Somaya die Utopia des Tahrir-Platzes und die unbekannte Freiheit genoss, verfolgte ihre Familie das staatliche Fernsehen und hörte die staatlichen Lügen über die Sexorgien in den Zelten des Tahrir-Platzes. Als die Telefonleitungen wieder funktionierten, rief Somaya ihren Bruder an, der ihr wütend entgegnete, sie solle bleiben, wo sie sei: »Schande über dich.« Sie ging schnell nach Hause. Der Bruder erwartete sie auf dem Balkon und erlaubte ihr nicht, das Haus zu betreten. Ihre Kleidung warf er ihr vom Balkon herunter. Einige Frauen aus dem Viertel jubelten ihm dabei zu und sagten, er solle noch härter mit ihr umgehen, um ihr die europäische Denkweise, die sie aus Italien mitgebracht habe, auszutreiben.
»Die
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