Krieg oder Frieden / Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens
Unterschied war, dass die Ziele der Demonstranten nun unterschiedlich waren. Einige demonstrierten für eine bessere Lohnpolitik, andere gegen die geplante Verfassungsänderung und manche für mehr Rechte für die Kopten. Am 8. März ging eine Gruppe ägyptischer Frauen auf den Tahrir-Platz, um den Weltfrauentag zu feiern und mehr Rechte für ägyptische Frauen zu fordern. Der Tag, der vor 101 Jahren von Klara Zetkin in Kopenhagen ins Leben gerufen worden war, inspirierte ägyptische Frauenrechtlerinnen bereits vor 90 Jahren, eine Frauenbewegung zu gründen. Einige männliche Aktivisten auf dem Tahrir-Platz unterstützten die Ansprüche der Frauen, während viele Männer und Frauen die Demonstrantinnen befremdlich anschauten und sie für ihre Aktion kritisierten. »Eins nach dem anderen, Fräulein. Nicht alles auf einmal!«, schrie ein Mann, der meinte, es sei kontraproduktiv, dass jede Gruppe nun für ihre Ansprüche demonstrierte, bevor das Land politisch und wirtschaftlich stabilisiert sei. Ich sprach eine Frau an, die am Rand stand, sie sagte: »Natürlich brauchen wir mehr Rechte, aber ich glaube, dass wir diese Rechte nicht durch Demonstrationen durchsetzen können. Wir können die Männer um mehr Rechte bitten, sooft wir wollen, aber nichts wird sich ändern. Jede Frau sollte mit ihrem Mann zu Hause und mit ihrem Chef bei der Arbeit ihre Rechte erkämpfen, nicht durch Bitten, sondern durch Selbstbewusstsein und Arbeit.« Ich antwortete ihr, dass ich trotzdem die Aktion der Frauen gut fände, da es das Thema ins Bewusstsein vieler bringe, die sich vielleicht irgendwann ernsthafter damit auseinandersetzen würden.
Es wurde heftig diskutiert. Das ist das neue Ägypten. Aber das alte Ägypten ist noch nicht verschwunden. Über einhundert Männer kamen den Frauen entgegen und versuchten, ihren Marsch zu stören. Einige von ihnen schubsten sie und zerrten sie zu Boden. Andere Männer und Frauen hielten dagegen und versuchten, die Gegendemonstranten zu verjagen. »Was wollt ihr denn noch? Ihr habt doch mehr Rechte als wir«, schrie ein Gegner der Aktion. »Die Spuren des Bluts der Märtyrer sind immer noch zu sehen auf dem Platz, und ihr kommt hierher, um für so einen Blödsinn zu demonstrieren«, sagte ein anderer.
Die Lage der Frauen in Ägypten kann man nicht nur durch die kulturellen Besonderheiten eines arabisch-islamischen Landes erklären, sondern auch durch wirtschaftliche Fakten. Von 24 Millionen arbeitsfähigen Frauen haben laut dem ägyptischen Amt für Statistik lediglich viereinhalb Millionen einen Job. Dazu kommt, dass die Arbeitslosigkeit insgesamt in Ägypten offiziell zwölf Prozent beträgt. In Wirklichkeit kann man von 20 sprechen. 40 Prozent aller jungen Menschen zwischen 20 und 30 sind arbeitslos. Das erhöht die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt für viele. Ein Arbeitgeber zieht oft einen männlichen Arbeitnehmer vor, weil Männer flexibler sind, was Arbeitszeiten, Überstunden und Nachtschichten betrifft. Viele ägyptische Familien verboten ihren arbeitenden Töchtern, Schwestern und Ehefrauen, nach der Revolution zur Arbeit zu gehen, weil die Straßen noch unsicher seien und die Meldungen über Entführungen und Vergewaltigungen sich mehrten. Ein Arbeitgeber nimmt darauf keine Rücksicht und sucht sich lieber einen männlichen Dauerersatz.
Folglich haben wir es mit einem Teufelskreis zu tun: eine kulturbedingte Befindlichkeit, die die Chancen der Frauen auf finanzielle Unabhängigkeit beschränkt, und eine wirtschaftliche Situation, die Frauen immer stärker in die Abhängigkeit von Ehemann, Vater oder Bruder bringt, was ihre Chancen auf Gleichstellung wiederum verringert. Da ist Kreativität gefragt. So wurde zum Beispiel neulich in Kairo die erste professionelle Kochschule für Frauen eröffnet. Das klingt nicht nach einem revolutionären Projekt zur Befreiung der Frauen, doch es ist ein Schritt, um die beruflichen Perspektiven vieler ungebildeter Frauen zu erweitern, denn kochen tun sie ohnehin zu Hause, ohne Entlohnung. Die Kochschule ermöglicht den Frauen, nicht nur ihre Kochkünste zu verbessern, sondern auch später als professionelle Köchinnen in Restaurants und Hotels zu arbeiten.
Die Auseinandersetzung auf dem Tahrir-Platz am Weltfrauentag hatte ein Nachspiel am nächsten Tag. Da wurde weiter demonstriert. Einige Demonstranten hielten den Platz seit Tagen besetzt, weil Mubarak noch nicht für seine Taten zur Verantwortung gezogen worden war.
Die Liste der Forderungen, die
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