Krieg oder Frieden / Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens
ihre Machtinteressen in Ägypten durchzusetzen. Ihnen war der Sozialist Nasser ein Dorn im Auge. Britische Zeitungen bezeichneten ihn als »Hitler vom Nil«, was eher als eine Verniedlichung Hitlers denn als eine Beleidigung Nassers zu verstehen ist. Auch zu den Amerikanern, die über Nassers Annäherung an die Sowjetunion besorgt waren, unterhielten die Brüder gute Kontakte. Die Muslimbrüder versuchten, Nasser, der sich für den Sozialismus statt den Islam entschied, 1954 nach einer Rede in Alexandria zu ermorden. Der Anschlag scheiterte, und einige Mitglieder der Muslimbrüder wurden hingerichtet. Die Führungskräfte und zahlreiche Muslimbrüder wurden inhaftiert. Darunter war ein Mann, der künftig die ideologische Richtung der Muslimbrüder prägen sollte: Sayyed Qutb begann seine Karriere als säkularer Literaturkritiker. Ihm verdanken wir die Entdeckung des literarischen Talents Nagib Mahfouz, der später den Nobelpreis erhielt. Während seines Studiums in Amerika zwischen 1948 und 1951 soll Qutb allerdings ein Erweckungserlebnis gehabt haben, das ihn in den Schoß des Islam zurückbrachte.
Der Legende nach soll er einige New Yorker gesehen haben, die auf der Straße tanzten, nachdem sie erfahren hatten, dass der Anführer der Muslimbruderschaft in Ägypten ermordet worden war. Hier soll er zum ersten Mal von der Bewegung gehört haben. Abgesehen davon, dass der Gedanke an Amerikaner, die Ende der 1940er Jahre wegen eines ermordeten Muslimbruders auf der Straße tanzten, seltsam anmutet, zeigt diese Erzählung auch, wie die Gruppe die Geschichte gern rekonstruiert, um die angebliche historische Feindschaft des Westens ihnen gegenüber zu betonen. Wie auch immer, im Anschluss an dieses tatsächliche oder erfundene Erlebnis soll sich Qutb intensiv mit der Gruppe und ihrer Ideologie beschäftigt haben. Nachdem er einen freundlichen Roman über New York verfasst hatte, änderten sich seine Sprache und seine Haltung dem Westen gegenüber grundlegend.
In einem Artikel mit dem Titel »Amerika, wie ich es sah«, den er in einer ägyptischen Zeitung veröffentlichte, beschreibt er den Westen als eine technisch entwickelte, aber moralisch barbarische Gesellschaft, die noch in der Dunkelheit der Dschahiliyya, also der Unwissenheit, lebt. Nach seiner Rückkehr nach Ägypten beschäftigte er sich mit den Themen Islam und soziale Gerechtigkeit. Der frühere Marxist war Muslimbruder geworden. Seine Schriften zum Islam sind entscheidend für die Radikalisierung der Muslimbrüder in den folgenden Generationen. Kurz nach Qutbs Entlassung aus dem Gefängnis im Jahre 1964 wurde er erneut verhaftet, weil er radikale Jugendliche angestiftet haben soll, staatliche Fabriken im Süden von Kairo in Brand zu setzen, um die Regierung Nasser zu schwächen. Im August 1966 wurde er hingerichtet und dadurch zum Märtyrer der Islamisten.
In den Gefängnissen spalteten sich einige Gruppen von den Muslimbrüdern ab, darunter die Dschihad Islami und die Jama’a Islamiyya, die aber unter Nassers Herrschaft kaum Entfaltungsmöglichkeiten hatten. Erst als 1967 Nassers Projekt der Befreiung Palästinas mit der Niederlage gegen Israel in einer Katastrophe endete, verblasste der Glaube an Nationalismus und Sozialismus. Eine ganze arabische Generation war von dieser Niederlage betroffen. Einmal mehr standen die Araber vor den Trümmern eines unkalkulierbaren Abenteuers und suchten Orientierung. Nach dem Scheitern des aus dem Westen importierten Nationalismus und Sozialismus wollten sie nun den eigenen Weg zur Selbstfindung nehmen. »Al-Islam huwal-hall«, der Islam ist die Lösung, so lautete von nun an das Motto der Islamisten, die zunehmend Anhänger fanden. »Der Fundamentalismus blüht auf den Trümmern gescheiterter Experimente«, schreibt Abdel-Wahaab Meddeb.
Während die ersten palästinensischen Kommandos, die gegen Israel kämpften, aus Marxisten und sogar aus Atheisten bestanden, mutierte der arabisch-israelische Konflikt mehr und mehr von einem territorialen zu einem religiösen. Erst in den 1980er Jahren tauchte die Hamas als Kraft in den palästinischen Gebieten auf. Sie gilt als Filiale der Muslimbruderschaft. Als Sadat Ägypten Richtung Westen öffnen wollte, rebellierten die Nasseristen und die Marxisten. Da kam Sadat auf die Idee, die Islamisten aus den Gefängnissen zu entlassen, um die Marxisten zu schwächen. Ein fataler Fehler, den er wenige Jahre später mit seinem Leben bezahlte. In der Tat gelang es den Islamisten nach
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