Krieg oder Frieden / Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens
Ägypter fähig sind.
Doch am 18. Tag ereignete sich etwas Schreckliches, das allerdings durch den Rücktritt von Mubarak überschattet wurde und kaum Beachtung fand. Während die Massen in Freudentaumel gerieten, stand die CBS -Korrespondentin Lara Logan umgeben von vielen jubelnden Männern. Logan schien überfordert und konnte kaum reden. Plötzlich rief einer aus der Masse »Sie ist eine Israelin.« Ein anderer schrie: »Zieht ihr die Unterhose aus!« Sie verlor den Kontakt zu ihrem Kameramann und dem Team. Der Rest ist eine einzige Tragödie, für die es keine Entschuldigung geben kann. Während Zehntausende laut schrien »Erhebe deinen Kopf, du bist Ägypter«, warfen Dutzende ägyptische Männer die südafrikanische Korrespondentin auf den Boden, rissen ihr die Kleidung vom Leib, begrabschten sie überall und vergingen sich an ihr. Eine knappe halbe Stunde lang lag sie unter dem Mob und konnte kaum atmen. Auch dieser Fall zeigt, wozu die Ägypter fähig sind. Eine gefühlte Ewigkeit von 25 Minuten musste die Frau, die sich in all ihren Berichten auf die Seite der Demonstranten gestellt hatte, die Qualen ertragen, bis sie sich beinahe ihrem Schicksal ergeben und sich mit dem Tod abgefunden hatte. Aber sie dachte an ihre beiden Kinder, die ein und zwei Jahre alt sind, und schöpfte neue Kraft, bis einige ägyptische Frauen und Soldaten sie atemlos vom barbarischen Mob erlösten. An diesem Tag und an den Tagen danach sprach kein Mensch über das Schicksal von Logan, denn es war wie das Jüngste Gericht in Ägypten an jenem Tag. Auch Logan konnte anfangs kein Wort dazu sagen. Der Fall wurde in den ägyptischen Medien kaum thematisiert, und bis heute wurde kein Täter zur Rechenschaft gezogen. Erst viel später traute sich Lara Logan, von ihrer Tragödie zu berichten, um anderen Frauen Mut zu machen, die etwas Ähnliches erlebt haben.
Wie ist diese Tragödie zu erklären? Ägypter, die an ihrer Utopie des Tahrir-Platzes festzuhalten versuchen, wollen die Geschichte Lara Logans entweder nicht wahrhaben oder versuchen, sie zu relativieren. Aus der Logik, dass alle Demonstranten gut und alle Anhänger Mubaraks böse seien, gingen sie davon aus, dass die Vergewaltiger die Männer Mubaraks waren, die die Freude der Ägypter über den Abgang des Diktators trüben und die Revolution in der Weltöffentlichkeit in Verruf bringen wollten. Andere erklärten den Fall mit der Massenpsychologie und Gruppendynamik: Ähnliche Übergriffe gebe es auch am Rande von Auftritten großer Popstars. Auch die Kriegspsychologie wurde bemüht. Der jubelnde Mob könne mit Soldaten einer siegreichen Armee verglichen werden, die nach langem Kampf gegen einen potenten Gegner nun im Rausch des chauvinistischen Triumphalismus die Frauen des besiegten Feindes vergewaltigten.
Doch das Problem ist vielschichtiger. Lara Logan ist eine Frau, eine westliche, blonde, unverschleierte Frau, die als Israelin bezeichnet wurde, eine vierfache Diskriminierung in einem Land, in dem nach wie vor eines dieser vier Attribute ausreicht, um diskreditiert zu werden. Tatsache ist, dass Fälle von sexuellen Belästigungen und Übergriffe auf Frauen in den Straßen, Verkehrsmitteln und öffentlichen Einrichtungen in Ägypten in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen haben. Interessant ist, dass solche Fälle in den 1970er Jahren in Kairo nicht bekannt waren, als die Mehrheit der Frauen unverschleiert war und viele von ihnen sogar im Minirock herumliefen. Heute, da eine viel strengere Sexualmoral herrscht und die große Mehrheit der Frauen ein Kopftuch trägt, gilt eine unverschleierte Frau manchen als legitime Beute für Sexhungrige. In einigen Vergewaltigungsprozessen der letzten Jahre wurde ein Vergewaltiger statt wie üblich zum Tode nur zu einer hohen Haftstrafe verurteilt, weil sein Opfer nicht angemessen gekleidet war, was den Reiz für ihn erhöht hätte. Das Opfer zum Mittäter zu machen ist also die Wurzel des Übels. Die Idee, dass die Frau ihre Reize bedeckt, statt dass der Mann seine Triebe in den Griff bekommt, ist ein fataler Denkfehler, der eine eigene Revolution braucht, um beseitigt zu werden, denn es geht hier um mehr als das Thema Sexualität. Es handelt sich um ein Männerbild, ein Frauenbild, ein Gesellschaftsbild, das auch für die Entstehung und Etablierung der Diktatur mitverantwortlich ist.
Anfang März war ich wieder auf dem Tahrir-Platz. Mubarak war längst aus dem Amt gejagt, aber die Demonstrationen fanden trotzdem kein Ende. Der
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