Krieg oder Frieden / Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens
Konterrevolution hat mein Zuhause bereits erreicht«, sagte sie lakonisch. Von der eigenen Familie gedemütigt und verkannt, nahm Somaya ihre Kleidung unter den Arm und ging zum Tahrir-Platz zurück, ohne ihren Sohn sehen zu dürfen. Ihr ganzes Leben über bestimmten andere über sie. Auch im Alter von 41 Jahren kann sie nicht selbst entscheiden, wo und mit wem sie die Nacht verbringt. »Als ich am Tahrir-Platz ankam, warf ich meine Kleidung auf den Boden, legte mich darauf und brach in hysterisches Weinen aus. Ich war nicht traurig, sondern sehr glücklich. Immer wurde ich schikaniert, immer musste ich mich klein machen, immer musste ich fliehen. Immer war ich auf der Suche nach einem richtigen Zuhause, immer war ich auf der Suche nach meinem Vater, der für seine Ehrlichkeit bestraft wurde. Ich war überglücklich, als ich wieder auf dem Tahrir-Platz war. Dieser Ort ist immer der Ort meiner Träume gewesen. Der Tahrir ist mein Zuhause, wo jeder mich so nimmt, wie ich bin, und keiner über meine Bekleidung meckert. Der Tahrir ist mein Vater, in dessen Schoß ich weinen und mich über die Ungerechtigkeit dieser Welt beschweren darf«, beendete sie ihre Geschichte lächelnd und weinend und sagte: »Genug für heute.«
Im März traf ich Somaya wieder. Sie hatte sich mit ihrem Bruder ausgesöhnt und darf wieder bei der Familie leben. Eigentlich hat er sie darum gebeten, zurückzukehren, nachdem er erfuhr, dass das, was er über den Tahrir im staatlichen Fernsehen gehört hatte, nur Lügen waren. Somaya kehrte zurück unter der Voraussetzung, dass niemand sich in ihre privaten Angelegenheiten einmischt. »Somaya nach der Revolution ist nicht wie Somaya vor der Revolution«, sagt sie. Von nun an lässt sie sich von niemandem mehr etwas vorschreiben. Ihr Sohn ist jetzt in der fünften Klasse. Auch seine Schule hat die Revolution erreicht. Er demonstrierte mit seinen Klassenkameraden für die Entlassung seines Schuldirektors, weil dieser sie oft ohne Grund ausgeschimpft hatte. Aber er war nicht so erfolgreich wie seine Mutter. Der Direktor darf bleiben. Aber Somayas Sohn weiß jetzt, was Präsident und was Verfassung bedeutet. »Die Generation, die diese Revolution erlebt hat, kann eine Diktatur nie wieder dulden. Langfristig gibt es zur Demokratie keine Alternative mehr in Ägypten«, sagt sie zuversichtlich.
Von Somaya hörte ich übrigens die schönste Beschreibung des Demokratisierungsprozesses in Ägypten: »Demokratie in Ägypten ist, wie wenn du unter der Dusche verzweifelt versuchst, über zwei Hähne mit warmem und kaltem Wasser die richtige Temperatur zu finden. Immer ist es entweder zu kalt oder zu heiß. Und wenn du nach mehreren Versuchen endlich mit der Temperatur zufrieden bist, macht deine Mutter das Wasser in der Küche an!«
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Die Rolle der Muslimbruderschaft
O bwohl sie zu wenig für die Revolution getan hat, war die Muslimbruderschaft zunächst der Gewinner des Regimewechsels. Das ist nicht neu in der Geschichte dieser Bewegung. Die religiöse Vereinigung wusste immer, wie sie sich im politischen Zirkus geschickt verhält, und lernte, jede politische Umwälzung am Nil für die eigenen Interessen zu instrumentalisieren.
Die Entstehung der Muslimbruderschaft im Jahre 1928, übrigens auch das Geburtsjahr des gestürzten Präsidenten Mubarak, kann nur in Zusammenhang mit zwei weiteren Ereignissen im Nahen Osten in jener Zeit verstanden werden: dem Sturz des osmanischen Kalifats im Jahr 1924 und der Kontrolle des saudischen Königshauses über weite Teile der arabischen Halbinsel 1926. Trotz der vier Jahrhunderte Unterdrückung durch die türkische Herrschaft löste das Ende des islamischen Kalifats in Istanbul bei zahlreichen Arabern eine Identitätskrise aus. Viele suchten Zuflucht bei den aus Europa importierten Ideen des Sozialismus und des Nationalismus. Vor allem christliche Syrer und Ägypter, die Angst vor einem Aufstieg des Islamismus hatten, predigten den Panarabismus, der sich sowohl gegen die türkische als auch gegen die britische und französische Kolonialherrschaft richtete. Andere wollten allerdings den Traum eines islamischen Reiches nicht aufgeben. Der Aufstieg der Saudis auf der arabischen Halbinsel und die Errichtung des Königsreichs Saudi-Arabien nährte in einigen Muslimen die Hoffnung auf ein neues arabisch-islamisches Kalifat.
Die Wiederherstellung des Gottesstaats war somit das Primärziel von Hassan Al-Banna, dem Begründer der Muslimbruderschaft. Al-Banna war aber kein
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