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Krieg oder Frieden / Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens

Krieg oder Frieden / Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens

Titel: Krieg oder Frieden / Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hamed Abdel-Samad
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benötigen wie heute. Ägypten, das auf Erdöl, Erdgas und Elektrizität aus den Turbinen des Assuan-Damms angewiesen ist, will auf Atomenergie umsteigen und entwickelt bereits Pläne für das erste Kraftwerk außerhalb Kairos. Abgesehen davon, dass die Sicherheitsstandards in Ägypten zu wünschen übriglassen, verfügt Ägypten über windstarke Regionen am Roten Meer und sonnenstarke Küsten am Mittelmeer, die zur Entwicklung von Wind- und Solar-Energien bestens geeignet sind. Tunesien, das fast über keine eigene Energiequellen verfügt, kann ebenfalls von der neuen Solar-Technik profitieren.
    Die Stiftung Desertec knüpfte über die letzten Jahre hinweg ein Netz aus Politikern, Forschern und Energiekonzernen, um Pläne zur Erzeugung von Sonnenenergie durch Solarkraftwerke in Nordafrika in die Tat umzusetzen. Durch große Leitungen soll der Strom nach Europa transportiert werden, bereits vorhandene Kraftwerke würden weiterhin bereitstehen, um durch einen Energiemix eine lückenlose Energieversorgung zu garantieren. Dabei werden alle Sorten von erneuerbarer Energie genutzt, um unabhängig von den Launen der Natur zu sein. Nur ein Teil der gewonnenen Energie, etwa 20 Prozent, sind für den Export nach Europa vorgesehen, 15 Prozent werden für die Meerwasserentsalzung benötigt. Der Rest ist für den Eigenbedarf der Länder Nordafrikas vorgesehen. Die riesigen Solaranlagen sollten an den Mittelmeerküsten von Ägypten, Tunesien und Marokko installiert werden. Die Leitungen sollen von Marokko über die Meerenge von Gibraltar nach Spanien, von Tunesien über das Meer nach Sizilien und von Ägypten über den Landweg nach Jordanien, in die Türkei und von dort aus nach Europa gelegt werden. Kritiker werfen dem Projekt vor, Europa wieder von Energiequellen außerhalb des Kontinents abhängig zu machen und die Dezentralisierung der Energieerzeugung durch Photovoltaik zu hemmen. Doch Europa wird nur 15 Prozent des eigenen Energiebedarfs aus der gewonnenen Energie in Nordafrika decken können. 30 Prozent werden aktuell durch Erdgas aus Russland gedeckt. Von den russischen Energielieferungen wäre der Westen ohnehin gerne weniger abhängig.
    Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass die nötigen Materialien für das Projekt, vor allem Glas und Kupfer, knapp sind. Laut Berechnung von Desertec muss die Weltproduktion von Glas lediglich um 0,4 Prozent gesteigert werden. In Ägypten zum Beispiel könnte das eine Wachstumsbranche sein, da die Weiße Wüste Ägyptens überwiegend aus einem für die Glasherstellung nötigen Sand besteht. Auch auf der Halbinsel Sinai befinden sich Unmengen von Sand, der für diese Produktion bestens geeignet ist. Die seit Jahren geschlossenen Kupferminen in Ägypten könnten dafür wieder geöffnet werden. Die Arbeitsplätze, die direkt oder indirekt mit diesem Projekt zusammenhängen, werden für die jungen Menschen in Nordafrika, aber auch für viele Europäer ein Segen sein. Die Desertec Stiftung gründete zudem im Oktober 2010 in Tunesien das »Desertec University Network« mit 18 arabischen und europäischen Universitäten, um die Energieforschung voranzutreiben.

    Ich bin kein Energieforscher und auch kein Ökonom und kann die für dieses Projekt notwendigen finanziellen und technischen Rahmenbedingungen nicht abschätzen. Auch fürchte ich, dass am Ende nur europäische Energieriesen davon profitieren werden. Doch was mich am meisten am Desertec-Projekt fasziniert, ist die Metapher. Die Vorstellung, dass beide Seiten des Mittelmeers vernetzt werden, dass zwischen beiden Seiten Energie fließt und Menschen Arbeit finden, gibt mir eine vage Hoffnung, dass das, was Politik und Kultur nicht schafften, durch die Wirtschaft realisiert werden kann. Sicher handelt es sich hier um eine Vision, aber so begannen schließlich die meisten großen Projekte der Menschheitsgeschichte. Solche Visionen braucht das Mittelmeer auf beiden Seiten, denn was wäre die Alternative? Dass beide Seiten sich voneinander abkapseln und sich um den eigenen Kram kümmern? In Zeiten, in denen China und Indien miteinander wirtschaftliche Allianzen eingehen, während Europa sehr stark mit sich selbst beschäftigt ist und die USA mit dem eigenen alternden Imperium hadern, ist der Westen auf neue Verbündete angewiesen. Jahrzehntelang galt die arabische Welt als die Region, die Energie, Terror und Migranten nach Europa exportiert. Aus arabischer Sicht waren die Produkte, die aus dem Westen kamen, technische Geräte, Waffen und Dekadenz.

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