Krieg oder Frieden / Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens
ausüben, Gelder zur Verfügung zu stellen: Im Namen des christlichen Gebots der Nächstenliebe versuchen einige Kirchenvertreter, eine Art Almosen für die Unterstützung der »Unterentwickelten« auf der anderen Seite des Mittelmeers zu mobilisieren. Andere, vor allem linke Aktivisten, versuchen, auf die Karte des schlechten Gewissens zu setzen. Der Westen habe die arabische Welt jahrhundertelang kolonialisiert und ausgebeutet und müsse jetzt Wiedergutmachung leisten. Der Westen habe durch skrupellose Wirtschafts- und Finanzpolitik die Länder des Südens nicht fair behandelt und sie in ihrer Entwicklung behindert. Der Westen habe die Diktaturen in der arabischen Welt durch Waffen- und Ölgeschäfte gestützt und die Demokratisierung dadurch nicht begünstigt. Die Liste der Sünden des Westens gegenüber den »armen« Arabern ist, wenn man will, beliebig lang und wird oft begleitet von Floskeln wie »in Anbetracht unserer Geschichte« und »gerade wir als Deutsche«. Andere, vor allem gebildete Bürger mit Migrationshintergrund, versuchen, auch wenn sie das nicht direkt wollen, den Westen zu erpressen: Wenn der Westen nicht sofort Hilfe leistet, kommen die Scharen der illegalen Einwanderer nach Europa und erobern das Abendland. Wenn Europa nicht hilft, kommt Al-Qaida und etabliert sich am anderen Ende des Mittelmeers. Sie merken nicht, dass sie dadurch nur die Argumentationsmuster von Diktatoren wie Mubarak und Gaddafi wiederholen. Jahrzehntelang herrschten diese Diktatoren genau mit jenen Argumenten, sie seien eine Festung gegen die Masseneinwanderung und die bärtigen Gotteskrieger.
Eins steht fest: Die Liste der Sünden und Versäumnisse des Westens ist in der Tat lang. Aber mindestens genauso lang, wenn nicht sogar länger, ist die Liste der Sünden und Versäumnisse der Araber selbst. Auch die Gefahren der Radikalisierung der jungen Araber oder deren Massenmigration nach Europa, wenn ihre Länder die Kurve nicht kriegen und stabile Wirtschaften aufbauen, sind nicht bloß haltlose Angstmacherei, denn es hat in der Geschichte keinen großen Umbruch gegeben ohne die Begleiterscheinungen von Migration und Extremismus.
Dennoch sollte man sich gerade jetzt von dieser Logik trennen, welche die vorhandene Asymmetrie zwischen den beiden Seiten des Mittelmeers noch mehr zementiert und die bestehende Kluft noch vergrößert. Es hilft niemandem, wenn man eine Seite des Mittelmeers als Subjekt und die andere als Objekt der Geschichte darstellt und wenn jede Seite der anderen die Schuld zuweist.
Außerdem sollte betont werden, dass die Demokratisierung in den arabischen Ländern nicht in erster Linie von den Geldern des Westens abhängt. Man kann so viel Geld in diese Länder pumpen, wie man möchte, doch dieses Geld ist keine Garantie für eine Besserung der Lage. Denn die Entwicklungshilfe, die der Westen an diese Länder in den letzten Jahrzehnten überwiesen hat, hat sie auch nicht in blühende Oasen verwandelt, weil die Strukturen in den Empfängerländern nicht für eine Entwicklung geeignet waren. Deshalb sind nicht Almosen gefragt, sondern Partnerschaftsprojekte, an deren Umsetzung beide Seiten beteiligt werden müssen und von denen beide langfristig profitieren können.
Die einfache Rechnung beginnt mit der Frage: Was hat der Westen, was die arabische Welt nicht hat, und was haben die Araber dem Westen heute zu bieten?
Der Westen hat ausreichend Expertise in der Entwicklung von demokratischen Strukturen, im Aufbau von Parteien und Gewerkschaften; er hat lange Erfahrung in der Ausbildung von Polizisten und technischen Fachkräften; daneben besitzt er technisches und industrielles Know-how, vor allem im zukunftsrelevanten Bereich der Energietechnik.
Was hat die arabische Welt im Gegenzug zu bieten? Junge, ambitionierte, neugierige Menschen, die mit und nach der Revolution ein neues Bewusstsein entwickelt haben. Die Länder Nordafrikas verfügen über jungfräuliche Wirtschaftsbranchen, die hohe Wachstumsraten versprechen. Die arabische Welt hat ausreichend Ressourcen, die für eine gesunde Wirtschaft nötig sind: Sonne, Wind, Zugang zu den Weltmeeren, Bodenschätze. Bringt man die Stärken beider Seiten zusammen, können zahlreiche Kooperationsprojekte entstehen, die jeder Seite hervorragende wirtschaftliche und damit auch soziale Perspektiven eröffnen können.
Nun bleibt die Frage, welche konkreten Projekte können da entstehen, und woher soll das Geld kommen? Schließlich ist Europa mit dem
Weitere Kostenlose Bücher