Krieg und Frieden
Kammerdiener.
Ein Adjutant trat ein, um dem Kaiser zu melden, wieviel Gefangene im gestrigen Gefecht gemacht wurden. Er blieb bei der Tür stehen und wartete auf die Erlaubnis, einzutreten. Napoleon sah ihn finster von der Seite an.
»Keine Gefangenen«, wiederholte er die Worte des Adjutanten. »Sie wollen also ausgerottet sein? Um so schlimmer für die russische Armee!« sagte er. »Tüchtig! Tüchtig!« wiederholte er. »Gut lassen Sie de Beausset und Fabvier auch eintreten!« sagte er mit einem Kopfnicken zu dem Adjutanten.
»Zu Befehl, Majestät!« Der Adjutant verschwand.
Rasch legten die Diener dem Kaiser die blaue Gardeuniform an, und der Kaiser trat mit festen, raschen Schritten in das Empfangszimmer. Beausset war beschäftigt, das von ihm überbrachte Geschenk der Kaiserin auf zwei Stühlen aufzustellen, aber der Kaiser trat unerwartet ein, bevor er mit seinen Vorbereitungen fertig war.
»Was ist das?« fragte Napoleon, als er bemerkte, daß alle nach einem Gegenstand blickten, der mit einem Tuch bedeckt war. Mit höfischer Gewandtheit, ohne seinen Rücken zu zeigen, machte Beausset eine halbe Wendung, trat zwei Schritte zurück und zog sogleich das Tuch weg.
»Ein Geschenk für Eure Majestät von der Kaiserin!« sagte er. Es war das Bild eines Knaben, das in hellen Farben von Gerard gemalt war. Es war ein sehr hübscher, blondlockiger Knabe mit dem Blick des Christuskindes auf dem Bilde der Sixtinischen Madonna, welcher mit einer Kugel und einem Stäbchen spielte. Die Kugel bedeutete die Erdkugel und das Stäbchen in der anderen Hand das Zepter.
»Der König von Rom!« sagte der Kaiser, indem er mit einer graziösen Gebärde nach dem Bilde deutete. Mit der dem Italiener eigenen Fähigkeit, den Gesichtsausdruck nach Belieben zu wechseln, trat er auf das Bild zu mit der Miene gedankenvoller Zärtlichkeit. Er fühlte, daß das, was er jetzt tat und sagte, Geschichte war, und hielt es für das beste, im Gegensatz zu seiner Machtfülle, welche dem Sohn erlaubte, mit der Erdkugel Ball zu spielen, die einfachste, väterliche Zärtlichkeit zu zeigen. Er trat näher, blickte sich nach einem Stuhl um, der ihm sofort zugeschoben wurde, und setzte sich dem Bilde gegenüber. Eine Handbewegung, und alle verließen auf Zehenspitzen das Zimmer.
Nachdem er einige Zeit mit seinen Gefühlen allein gewesen, stand er auf und berief wieder Beausset und den Adjutanten zu sich. Er befahl, das Bild vor dem Zelt aufzustellen, damit seine alte Garde des Glückes teilhaftig werde, den König von Rom zu sehen, den Sohn und Nachfolger ihres angebeteten Herrn. Wie er erwartet hatte, drängten sich sogleich die Offiziere und Soldaten seiner alten Garde vor dem Zelt um das Bild. »Vive l`empereur! Es lebe der König von Rom!« riefen begeisterte Stimmen. Nach dem Frühstück diktierte Napoleon einen Armeebefehl. »Kurz und energisch!« sagte Napoleon, als er selbst die in einem Guß, ohne Änderung niedergeschriebene Proklamation las:
Soldaten! Die Schlacht ist da, die ihr so lange herbeigewünscht habt! Der Sieg hängt von euch ab, er ist uns notwendig, und wird euch alles Nötige liefern, bequeme Quartiere und baldige Rückkehr ins Vaterland. Benehmt euch so wie bei Austerlitz, Friedland, Witebsk und Smolensk! Die spätere Nachkommenschaft wird sich eurer Taten an diesem Tag mit Stolz erinnern! Von jedem von euch wird man sagen: ›Auch er war dabei in der großen Schlacht vor Moskau.‹«
»Nehmt das Bild fort!« sagte er mit majestätischer Würde. »Es ist noch zu früh für ihn, ein Schlachtfeld zu sehen.«
170
Diesen ganzen Tag war Napoleon zu Pferd, besichtigte die Gegend, überlegte Pläne, welche ihm seine Marschälle vorlegten, und erteilte persönlich seinen Generalen Befehle. Zurückgekehrt von einem zweiten Ritt, sagte Napoleon: »Das Schachspiel ist aufgestellt, morgen beginnt die Partie.« Dann ließ er sich Punsch bringen, rief Beausset zu sich und sprach mit ihm über Paris und über den Hofstaat der Kaiserin. Der Hofmarschall war erstaunt über die Genauigkeit, mit der sich Napoleon der geringsten Einzelheiten des Hoflebens erinnerte. Nachdem er sein zweites Glas Punsch geleert hatte, ließ er sich nieder, um vor der ernsten Aufgabe des kommenden Tages zu schlafen. Doch der Gedanke daran erregte ihn so sehr, daß er nicht einschlafen konnte und schon um drei Uhr morgens in den großen Mittelraum des Zeltes trat. Er fragte, ob die Russen nicht abgezogen seien, und erfuhr, daß die Lagerfeuer noch immer
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