Krieg und Frieden
Stellung noch einmal zu besichtigen. Man wartete von vier bis sechs Uhr, ohne in die Beratung einzutreten, und sprach nur leise. Erst als Bennigsen ins Zimmer trat, rückte Kutusow aus seiner Ecke an den Tisch, der mit Karten, Plänen und Bleistiften bedeckt war. Bennigsen eröffnete die Beratung durch die Frage: »Sollen wir ohne Kampf die geheiligte Residenz Rußlands aufgeben oder sie verteidigen?« Ein langes Schweigen folgte, alle blickten nach Kutusow. Auch Malascha sah nach Großväterchen, sie war ihm am nächsten und sah, wie sein Gesicht sich verzog, als ob er weinen wollte. Aber das dauerte nicht lange.
»Die geheiligte, alte Residenz Rußlands«, wiederholte er plötzlich mit zorniger Stimme die Worte Bennigsens und zeigte dadurch die falsche Note darin. »Erlauben Sie mir zu bemerken, Erlaucht, daß diese Frage für einen Russen keinen Sinn hat! Eine solche Frage kann man nicht stellen, aber die Frage, wegen der ich diese Herren berufen habe, ist eine militärische Frage und lautet: ›Da die Rettung Rußlands in der Armee liegt – ist es vorteilhaft, den Verlust der Armee und Moskaus zu riskieren, indem man eine Schlacht annimmt, oder Moskau ohne Schlacht aufzugeben?‹ Das ist die Frage, über die ich Ihre Meinung zu hören wünsche.«
Die Beratung begann. Bennigsen gab sein Spiel noch nicht verloren. Indem er die Meinung Barclays und anderer von der Unmöglichkeit, eine Verteidigungsschlacht in der neuen Stellung anzunehmen, anführte, schlug er vor, in der Nacht die Truppen von dem rechten auf den linken Flügel überzuführen und am anderen Tage den rechten Flügel der Franzosen zu überfallen. Die Meinungen waren geteilt, man sprach für und gegen diesen Plan, aber die meisten begriffen, daß dieser Kriegsrat den unvermeidliche Verlauf der Dinge nicht ändern konnte und daß Moskau bereits aufgegeben war. Malascha, welche mit Spannung verfolgte, was vorging, faßte die Bedeutung dieser Beratung anders auf, ihr schien es, daß es sich nur um einen persönlichen Kampf zwischen dem Großväterchen und dem Langschößigen handelte, wie sie Bennigsen nannte. Sie sah, daß sie sich erbosten, wenn sie miteinander sprachen, und innerlich trat sie dem Großväterchen zur Seite. Während des Gesprächs bemerkte sie einen raschen, listigen Blick des Großväterchens nach Bennigsen und darauf sah sie zu ihrer Freude, daß Großväterchen dem Langschößigen etwas sagte, was diesen ärgerte.
»Ich kann dem Plan des Grafen nicht beistimmen«, sagte Kutusow. »Eine Bewegung der Truppen in solcher Nähe des Feindes ist immer gefährlich.« Die Beratung wurde erneuert, aber es traten häufige Pausen ein und es war ersichtlich, daß weiter nichts mehr zu sprechen war.
»Ich sehe, meine Herren, ich muß für die zerschlagenen Töpfe bezahlen«, sagte Kutusow und trat zum Tisch. »Meine Herren, ich habe Ihre Meinung gehört, von welchen einige nicht mit mir übereinstimmen. Ich aber« – er hielt an –, »kraft der Gewalt, die mir von Kaiser und Vaterland anvertraut wurde, befehle ich den Rückzug!«
Darauf trennten sich die Generale feierlich und schweigend, wie nach einem Begräbnis. Einige derselben machten dem Oberkommandierenden Meldungen in ganz anderem Tone als während des Kriegsrats.
Als Kutusow allein geblieben war, dachte er lange über die schreckliche Frage nach: »Wann? Wann fiel die Entscheidung, daß Moskau aufgegeben werden muß, und wer ist schuld daran?«
»Das habe ich nicht erwartet«, sagte er zu dem Adjutanten Schneider, welcher mitten in der Nacht eintrat.
»Sie müssen ausruhen, Durchlaucht«, sagte Schneider.
»Nein«, schrie Kutusow und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Sie müssen auch Pferdefleisch fressen wie die Türken! Wartet nur!«
181
Helene, welche mit dem Hof zugleich aus Wilna nach Petersburg gekommen war, befand sich in schwieriger Lage. In Petersburg erfreute sie sich des besonderen Schutzes eines hohen Herrn, der eine der höchsten Stellen im Kaiserreich einnahm, in Wilna aber war sie mit einem jungen, ausländischen Prinzen näher bekannt geworden. Als sie nach Petersburg zurückkehrte, waren der Prinz und der Minister beide dort, machten ihre Rechte geltend, und Helene stand jetzt vor der ihr noch neuen Aufgabe, ihre Intimität mit beiden beizubehalten, ohne einen von ihnen zu verletzen.
Was für eine andere Frau schwer, sogar unmöglich gewesen wäre, das machte die Gräfin Besuchow keinen Augenblick nachdenklich. Hätte sie ihre Lebensweise geheim
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