Krieg und Frieden
sagte er zu sich selbst, er wollte das auch seiner Schwester sagen, »doch nein«, dachte er, »sie fassen das auf ihre Weise auf und verstehen mich nicht! Sie können nicht verstehen, daß alle jene Gefühle, die ihnen teuer sind, alle jene Ideen, die ihnen so wichtig erscheinen – überflüssig und nutzlos sind. Wir können einander nicht mehr verstehen.«
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Der kleine Nikolai war sieben Jahre alt, verstand kaum zu lesen und wußte nichts. Er hat nach jenem Tag viel erlebt und Kenntnisse, Beobachtungsgabe und Erfahrungen erworben, aber wenn er damals auch alle später erworbenen Fähigkeiten besessen hätte, so hätte er doch nicht deutlicher die ganze Bedeutung jener Szene zwischen dem Vater, der Tante Marie und Natalie begreifen können, deren Zeuge er gewesen war, als er sie damals begriff. Er hatte alles verstanden. Ohne zu weinen, verließ er das Zimmer, schweigend ging er zu Natalie, welche ihm nachfolgte, und blickte sie mit seinen gedankenvollen, schönen Augen an. Seine Oberlippe zuckte, er schmiegte seinen Kopf an sie und weinte.
Von diesem Tag an vermied er Desalles und die Gräfin, die ihn liebkoste. Entweder saß er allein oder er ging schüchtern zur Tante Marie, oder auch zu Natalie, welche er noch mehr zu lieben schien als seine Tante.
Als Marie ihren Bruder verließ, wußte sie, was ihr Natalies Blick gesagt hatte. Sie sprach nicht mehr mit ihr von der Hoffnung auf Genesung, sie löste sich mit ihr ab an seinem Diwan und weinte nicht mehr, beständig aber betete sie zu jenem Ewigen, dessen Gegenwart über dem Sterbenden jetzt so fühlbar war.
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Fürst Andree wußte nicht nur, daß er sterben würde, sondern er fühlte auch schon, daß er sterbe und schon halb gestorben war, er fühlte sich schon allem Irdischen fremd und erwartete ruhig, was ihm bevorstand.
Jenes Drohende, Ewige, Unbekannte und Fernstehende, dessen Gegenwart er während seines ganzen Lebens beständig empfunden hatte, war ihm jetzt so nahe.
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Früher hatte er sich vor dem Ende gefürchtet, zweimal hatte er das schreckliche, quälende Gefühl der Todesfurcht empfunden, jetzt aber empfand er dieses nicht mehr.
Das erstemal hatte er jenes Gefühl damals kennengelernt, als die Granate sich wie ein Kreisel vor ihm drehte, während er das Feld, den Himmel, die Gebüsche ansah und wußte, daß vor ihm der Tod lag. Als er nach seiner Verwundung erwachte und in seiner Seele jene Blüte der ewigen, von diesem Leben unabhängigen Liebe erwuchs, fürchtete er nicht mehr den Tod und dachte nicht mehr an ihn. Je mehr er sich in jenen Stunden des einsamen Leidens und des Fieberwahns nach seiner Verwundung in die ihm neu entdeckte Grundlage der ewigen Liebe hineindachte, desto mehr entfernte er sich, ohne es selbst zu fühlen, von dem irdischen Leben. Alles und alle zu lieben, sich immer für die Liebe aufzuopfern, bedeutete jetzt, niemand zu lieben und nicht in diesem irdischen Leben zu existieren, und je mehr er in diesen Anfang der Liebe eindrang, desto mehr entfremdete er sich dem Leben und um so vollständiger vernichtete er jene schreckliche Grenze, welche zwischen Leben und Tod steht, wenn wir keine Liebe haben. In jener ersten Zeit, wenn er daran dachte, daß er sterben müsse, sagte er sich selbst gleichmütig: »Was liegt daran? Um so besser!«
Aber nach jener Nacht in Mitischtschi, als während der Fieberglut sie vor ihm erschien, nach der er sich gesehnt hatte, und als er ihre Hand an seine Lippen drückte und stille Freudentränen weinte, stahl sich die Liebe zu einem weiblichen Wesen unmerklich in sein Herz und verband ihn wieder mit dem Leben, und freudige und sorgenvolle Gedanken suchten ihn wieder heim. Wenn er sich aber jener Stunde auf dem Verbandsplatz erinnerte, als er Kuragin erblickt hatte, konnte er jetzt nicht mehr zu jenem Gefühl zurückkehren, jetzt quälte ihn die Frage, ob er am Leben geblieben sei, und er wagte nicht danach zu fragen.
Seine Krankheit nahm ihren physischen Verlauf. Es war nicht etwas Besonderes gewesen, was nach Natalies Meinung vor zwei Tagen mit ihm vorgegangen war, es war nur der letzte innere Kampf zwischen dem Leben und dem Tod, in welchem der Tod siegte. Es war die Erkenntnis dessen, daß er noch am Leben hing, das sich ihm in Gestalt der Liebe zu Natalie zeigte, und ein letzter Anfall von Schrecken vor dem Unbekannten.
Es war am Abend. Wie gewöhnlich am Nachmittag befand er sich in einem leichten Fieberzustand und seine Gedanken waren außerordentlich klar.
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