Krieg und Frieden
Sonja saß am Tisch. Er schlummerte, plötzlich empfand er ein Gefühl des Glücks.
»Ah, sie ist hereingekommen«, dachte er, und wirklich saß an der Stelle Sonjas Natalie, die soeben mit unhörbaren Schritten eingetreten war. Seit der Zeit, wo sie zu ihm kam, hatte er immer jenes physische Gefühl ihrer Nähe empfunden.
Sie saß in einem Lehnstuhl, die eine Seite ihm zugewendet, um ihm das Kerzenlicht zu verdecken, und strickte einen Strumpf. Sie hatte stricken gelernt, als Andree ihr einmal gesagt hatte, niemand verstehe so die Kranken zu pflegen als die alten Ammen, welche Strümpfe stricken, und in dem Stricken liege etwas Beruhigendes. Als sie eine Bewegung machte, fiel das Knäuel von ihren Knien herab. Erschrocken fuhr sie zusammen, blickte sich um, verdeckte die Kerze mit der Hand, bog sich mit einer vorsichtigen, gewandten Bewegung herab, hob das Knäuel auf und nahm wieder ihren früheren Sitz ein.
Er blickte sie an, ohne sich zu rühren, und bemerkte, daß sie nach dieser Bewegung tief aufatmen mußte, dies aber nicht wagte und vorsichtig den Atem einzog.
»Sie schlafen nicht?« sagte sie, als sie eine leise Bewegung vernahm.
»Nein, ich sehe schon lange nach Ihnen, ich habe es gefühlt, als Sie eintraten. Mit Ihnen kommt immer die Stille ... das Licht.«
Natalie rückte mit freudig strahlendem Gesicht nahe zu ihm.
»Natalie, ich liebe Sie zu sehr, mehr als alles auf der Welt, und ich ...«
Sie wandte sich ab. »Warum zu sehr?« fragte sie.
»Warum? Nun, wie denken Sie, werde ich am Leben bleiben?«
»Ich bin überzeugt davon!« rief Natalie hastig und umfaßte ihn leidenschaftlich.
Er schwieg.
»Wie schön wäre es!« Er küßte ihre Hand.
Natalie befand sich in freudiger Erregung, erinnerte sich aber sogleich, daß er Ruhe nötig habe.
»Aber Sie haben nicht geschlafen, Sie müssen einschlafen. Geben Sie sich Mühe!« sagte sie.
Sie ließ seine Hand mit leichtem Druck los, ging zu der Kerze und setzte sich wieder auf ihren früheren Platz. Zweimal blickte sie sich nach ihm um, seine Augen blickten glänzend nach ihr hinüber. Sie stellte sich selbst eine Aufgabe an ihrem Strumpf und nahm sich vor, sich vor Beendigung derselben nicht umzusehen.
Wirklich schloß er bald darauf die Augen und schlief ein. Aber nach kurzer Zeit erwachte er in kaltem Schweiß. Beim Erwachen dachte er immer an das, was ihn die ganze Zeit über beschäftigte, an Leben und Tod – und am meisten an den Tod, denn er fühlte, daß er diesem am nächsten sei.
»Liebe! Was ist Liebe?« dachte er. »Liebe hindert nur am Sterben. Liebe ist das Leben! Alles, was ich begreife, begreife ich nur deshalb, weil ich liebe, alles existiert nur deshalb, weil ich liebe, alles ist nur durch sie verbunden. Die Liebe ist Gott, und zu sterben bedeutet für mich ein Teilchen von Liebe, die Rückkehr zur gemeinschaftlichen, ewigen Quelle.« Diese Gedanken waren ihm tröstlich, aber es waren nur Gedanken, es fehlte etwas in ihnen, es war etwas Einseitiges – es fehlte die Augenscheinlichkeit, und deshalb herrschte wieder dieselbe Unruhe und Undeutlichkeit. Er erwachte.
Er hatte geträumt, daß er in demselben Zimmer liege, aber nicht verwundet sei, sondern gesund. Viele unbedeutende, gleichgültige Personen erschienen vor ihm, er sprach mit ihnen und stritt über etwas Geringfügiges. Die Leute waren im Begriff, fortzufahren. Fürst Andree hatte eine unklare Vorstellung davon, daß alles das nichtig sei, und daß er wichtigere Aufgaben habe, aber er fuhr fort, zu sprechen und sie durch leere, gesuchte Reden in Verwunderung zu setzen. Nach und nach begannen diese Personen zu verschwinden und alles verwandelte sich in die eine Frage über die geschlossene Tür. Er steht auf und geht an die Tür, um den Riegel vorzuschieben und sie zu verschließen. Ob es ihm gelingt oder nicht, sie zu verschließen, davon hängt alles ab. Er will eilig gehen, aber seine Füße kommen nicht von der Stelle, und er weiß, daß es ihm nicht gelingen wird, die Tür zu verschließen, aber dennoch macht er krampfhafte Anstrengungen. Schrecken überfällt ihn, und dieser Schrecken ist der Schrecken des Todes. Hinter der Tür steht er. Aber während er verzweifelt der Tür zustrebt, stürzt sich etwas Entsetzliches von der anderen Seite auf sie, etwas Übermenschliches, der Tod, wirft sich gegen die Tür, und man muß sie festhalten. Er stemmt sich gegen die Tür mit äußerster Anstrengung, aber es ist nicht mehr möglich, sie zu verschließen, er will sie
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