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Krieg und Frieden

Krieg und Frieden

Titel: Krieg und Frieden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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selbst. Sie konnte sich nicht enthalten, sich umzublicken, und als sie seinen Augen begegnete, fühlte sie sich von seiner Nähe und Zuversichtlichkeit und der gutmütigen Freundlichkeit seines Lächelns besiegt. Sie lächelte ebenso wie er, indem sie sich gerade in die Augen sahen, und wieder fühlte sie mit Schrecken, daß zwischen ihm und ihr keine Schranke bestand. Wieder erhob sich der Vorhang, Anatol verließ die Loge ruhig und vergnügt. Natalie kehrte zu ihrem Vater zurück. Alles, was vor ihr vorging, schien ihr jetzt ganz natürlich, aber alle früheren Gedanken an ihren Bräutigam, an Marie und das Landleben kamen ihr nicht mehr in den Sinn, als ob das alles längst vergangen wäre.
    Im vierten Akt kam eine Art von Teufel, welcher sang und mit den Armen Gebärden machte, bis die Bretter unter ihm weggezogen wurden und er hinabsank.
    Natalie sah nur dies vom ganzen vierten Akt, sie war heftig erregt, und die Ursache davon war Kuragin, dem ihre Blicke folgten. Beim Verlassen des Theaters trat Anatol zu ihnen, rief ihren Wagen herbei und half beim Einsteigen, wobei er den Arm Natalies über dem Ellenbogen drückte. Aufgeregt und errötend blickte sie sich um, seine Augen glänzten, und er sah sie mit zärtlichem Lächeln an.
     
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    Sobald Natalie zu Hause angekommen war und alles klar überdenken konnte und plötzlich sich des Fürsten Andree erinnerte, entsetzte sie sich. Am Teetisch stöhnte sie laut und eilte errötend aus dem Zimmer.
    »Mein Gott, ich bin verloren«, sagte sie sich. »Wie konnte ich es so weit kommen lassen!« Sie bedeckte das Gesicht mit den Händen und saß lange so da, bemüht, sich klare Rechenschaft zu geben von dem, was geschehen war. Aber sie begriff weder, was mit ihr vorgegangen war, noch was sie empfand, alles erschien ihr dunkel, unklar und schrecklich. Dort in dem großen, hell erleuchteten Saal, wo bei der Musik Duport und die Mädchen mit nackten Beinen tanzten und die alten Herren und die halbnackte Helene mit ruhigem Lächeln entzückt »Bravo!« schrien, dort, unter dem Schatten dieser Helene, war alles klar und einfach gewesen. Jetzt aber, allein mit sich selbst, war ihr das unbegreiflich.
    »Was bedeutet diese Angst, die ich vor ihm empfand und diese Gewissensbisse, die mich jetzt quälen?« dachte sie.
    Nur der alten Gräfin hätte Natalie in der Nacht im Bett alles erzählen können, Sonja aber, das wußte sie, mit ihrem strengen, keuschen Blick, hätte entweder nichts begriffen oder wäre bei ihrem Geständnis in Entsetzen geraten, daher suchte Natalie allein mit sich selbst zu erforschen, was sie quälte.
    »War sie verloren für die Liebe des Fürsten Andree oder nicht?« fragte sie sich selbst, und mit beruhigendem Spott erwiderte sie sich: »Welche törichte Frage! Was ist denn vorgefallen? Nichts. Ich habe nichts getan, niemand wird es erfahren, und ich werde ihn nicht mehr wiedersehen«, sagte sie sich selbst. Natalie beruhigte sich für einen Augenblick, dann aber sagte ihr ein unbekanntes Gefühl, obgleich das alles wahr sei, und obgleich nichts vorgefallen – sei doch die frühere Reinheit ihrer Liebe zum Fürsten Andree verloren. Und wieder sah sie in ihrer Einbildung das Gesicht Kuragins, die Gebärden und das höfliche Lächeln dieses schönen und kecken Menschen, während er ihre Hand drückte.

121
    Anatol Kuragin lebte in Moskau, weil sein Vater ihn aus Petersburg fortgesandt hatte, wo er mehr als zwanzigtausend Rubel jährlich an barem Geld und ebensoviel an Schulden verlebte, welche die Gläubiger von seinem Vater verlangten.
    Der Vater erklärte seinem Sohn, er bezahle zum letztenmal die Hälfte seiner Schulden, aber nur unter der Bedingung, daß er nach Moskau reise in der Stellung eines Adjutanten des Oberkommandierenden, die er ihm verschafft hatte, und daß er sich dort endlich bemühe, eine gute Partie zu machen. Er wies ihn an Fürstin Marie und Julie Karagin.
    Anatol fügte sich und fuhr nach Moskau, wo er bei Peter Aufenthalt nahm. Peter empfing ihn anfangs ungern, dann aber gewöhnte er sich an ihn, fuhr zuweilen mit ihm zu seinen Gelagen und gab ihm Geld unter dem Vorwand einer Anleihe.
    Anatol hatte, wie Schinschin richtig bemerkte, so bald er nach Moskau kam, den jungen Damen den Kopf verdreht, besonders dadurch, daß er sie vernachlässigte und ihnen augenscheinlich Zigeunerinnen und Französinnen vorzog und mit einer von ihnen, Mamsell Georges, intime Beziehungen unterhielt. Er fehlte bei keinem Gelage bei Danilow und andern

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