Krieger der Stille
Mutter. Sie lachten viel. Für Shari waren diese häufigen Besuche das reinste Glück, denn ihm schenkten sie lange Stunden der Freiheit, die er auf dem amphanischen Feld verbringen konnte.
Dieser schreckliche Anblick war so grauenvoll, dass Shari auf der Fackel erstarrte. Er merkte nicht einmal, dass er weinte. Sein Blick hing an seiner gemarterten Mutter. Bittere Galle stieg in seiner Kehle auf, und wider Willen musste er aufschluchzen.
Der lange Bart des alten Amphanen zwischen den beiden Pfählen wehte im Wind wie ein Todesbanner. Und sein orangefarbenes Priestergewand glich einer flackernden Höllenflamme, wenn eine Böe es erfasste. Mit einer Geste befahl er den vier Sängern, die jetzt knieten und sich sammelten, den Urteilsspruch zu verkünden. Sie hielten die Hände trichterförmig vor ihre Münder und stimmten einen monotonen, von schrillen Tönen unterbrochenen Gesang an, der die Zuschauer erschaudern ließ. Die Gefolterten wanden sich in Schmerzen an den Pfählen, als hätten sie flüssige Lava trinken müssen.
Und Shari litt mit seiner Mutter. Sein stummes Weinen wurde zu lautem Schluchzen.
Aufpeitschende Böen erhöhten die Lautstärke des Todesgesangs. Manchmal bewirkten diese Zeremonien spektakuläre Veränderungen des Wetters, die das ameurynische Volk als Widerruf betrachtete. Deshalb beobachtete der alte Priester den Himmel genau. Denn sollte das aufkommende Unwetter vor der Hinrichtung der Verurteilten losbrechen, würde er gezwungen sein, sie zu begnadigen. Und das wollte er nicht tun. Es war schon lange her, dass die amphanische Geistlichkeit ein Todesurteil über ein Mitglied ihres Volkes nicht mehr hatte vollstrecken können. Ein den Elementen der Natur geschuldeter Widerruf hätte nur ihrem Status geschadet.
Trotz ihrer unerträglichen Schmerzen hatte Sharis Mutter die Kraft zu schreien.
»Shari! Shari! Du … mein Leben! Ich weiß, dass du da bist … Hör mich an! Lauf weg! Lauf weg … Flieh, so weit du kannst … Hier ist schon alles tot … Ich nehme dich in meinem Herzen mit … Und du nimmst mich in deinem Herzen mit! Bleibe nicht bei diesen Leuten … Sie sind bereits gestorben!«
»Schweig, Weib Rampouline!«, befahl der alte Amphane. »Bereue deine Sünden, ehe du vor deinen Richter, deinen Schöpfer trittst. Der Todesgesang wird dich von deiner Schande reinigen, doch nur, wenn du ihm demütig entgegentrittst. Mach dir um deinen Sohn keine Sorgen, er wird frommen Händen anvertraut. Kümmere dich nur um deine Seele, sie hat es nötig!«
Shari verstand nicht, warum die Priester seine Mutter – die er über alles in der Welt liebte – auf diese Weise bestraften. Es musste sich um einen Irrtum handeln. Was
hatte sie denn verbrochen, sie, ein Engel aus Sanftheit und Geduld, die für jeden ein freundliches Wort hatte. Am liebsten wäre er zu ihr gelaufen, um sie zu befreien und hätte sein Gesicht an ihrer warmen, weichen Brust geborgen. Sie war rein, unschuldig und des Lebens würdiger als alle hier Versammelten. Doch er war vor Kummer wie gelähmt, unfähig, sich zu rühren oder zu schreien, während er zusehen musste, wie die Ameurynen mit gierigen Augen auf die Gefolterten starrten und die widerliche Szene ihres Todeskampfes genossen.
»Shari! Mein Leben … Mein geliebter Sohn … Flieh! Lass dich niemals …«
Die abgehackten Worte seiner Mutter endeten in einem Röcheln. Der Mann hatte bereits das Bewusstsein verloren. Sein Kopf war zur Seite gesunken. Schwere, vom Wind gepeitschte Wolken hatten sich über den Sternenhimmel geschoben.
Der alte Amphane war mit dem Verlauf der Zeremonie sichtlich unzufrieden, denn das Weib Rampouline hatte die Kühnheit besessen, das geheiligte Schweigen zu brechen und dadurch die Wirkung des Todesgesangs geschwächt. Gleich würde der Himmel als Zeichen seines Unmuts seine Schleusen öffnen. Der Priester warf den Sängern wütende Blicke zu. Die Zeremonie musste schneller vonstatten gehen und rasch einen Abschluss finden, sonst konnte die Tradition nicht in würdiger Weise fortgesetzt werden. Also beschloss er, die Dinge in die Hand zu nehmen.
Schließlich rührte sich die Frau nicht mehr, und ihre Augen verschleierten sich. In ein paar Sekunden musste sie tot sein, und der Regen hatte noch nicht eingesetzt. Ihr Kopf fiel auf ihre Brust und pendelte hin und her. Ein zufriedenes
Lächeln umspielte den rissigen Mund des alten Amphanen.
Da ertönten Schreie aus der Menge: »Das Kind! Der Knabe! Er flieht! Haltet
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