Krieger der Stille
Befehl!«
Wieder brach er in unbändiges Gelächter aus. Den Grund für die Heiterkeitsausbrüche seines neuen Lehrers konnte Shari nicht verstehen. Doch dieses laute Lachen war ihm bei Weitem lieber, als das monotone Gemurmel der Amphanen.
»Als Erstes musst du versuchen«, fuhr der Narr fort, »deine Seele mit der des Steins zu vereinen. Du musst jene geheime Stelle finden, wo ihr eins seid, wo du Fels wirst und er Knabe wird. Dann ist alles ganz einfach: Du sprichst deinen Wunsch vom Grund deines Herzens aus, und der Stein wird deinen Wunsch erfüllen …«
Shari fragte sich, ob der Mann sich nicht wie Halaïne Jabrane über ihn lustig machte, oder ob er nicht verrückt sei, wie die Amphanen behaupteten. Aber er fühlte sich im Schatten des Steins wohl. Es war, als würde der Fels einen schützenden Flügel über ihn ausbreiten.
»Wie macht man das, wenn man Stein werden will?«
»Indem du dich gehen lässt«, antwortete der Narr. »Vorhin hast du ihn durch deine Konzentration verletzt, du hast ihn dir zum Feind gemacht. Du darfst deinen Geist zu nichts zwingen. Deine besten Verbündeten sind deine Jugend und deine Unschuld. Bediene dich deiner Unschuld, um ins Herz der Materie einzudringen. Vereinige dich mit ihr. Liebe sie, wie du deine Mutter liebst. Dann erreichst du den Zustand, in dem Stein und Kind eins sind … Willst du das versuchen?«
Der Narr der Berge schwieg. Und trotz der flehenden Blicke des Knaben, den alle diese Ratschläge verwirrten,
blieb der Mann stumm. Shari starrte verzweifelt den rauen Stein an. Er kam ihm freundlich gesonnen vor, entgegenkommend wie nie. Durch das angestrengte Starren trübte sich sein Blick, und seine Augen tränten.
Er öffnete den Mund, weil er den Narren um einen weiteren Rat bitten wollte, doch der saß wie erstarrt da – ein Fels auf einen Felsen geschmiedet – und schenkte seinem Schüler keine Beachtung.
Shari schloss instinktiv die Augen, weil seine Lider schwer waren und er müde wurde. Das Brennen darin ließ sofort nach. Dann spürte er, wie sich sein ganzer Körper entspannte, spürte eine äußerst angenehme innere Ruhe. Nur ein paar wirre Gedanken streiften ihn flüchtig. Schließlich vergaß er den Stein, den Narren, das Wüstenplateau, die Bergkette am Horizont, die Hitze. Er gab sich der unendlichen inneren Stille hin und hörte nur noch undeutliche Geräusche, das Flüstern des lauen Windes, die fernen Schreie der Raubvögel. Langsam verlor er das Gefühl für Raum und Zeit.
Als er die Augen wieder öffnete, lag das amphanische Feld im rötlichen Licht der Abenddämmerung. Ein heftiger Wind zog vom Gebirge her und wirbelte ockerfarbenen Staub auf und blies ihm Sandkörner ins Gesicht und auf seinen nackten Oberkörper und wehte ihm Strähnen seines Haars über Stirn und Wangen.
Verwundert, weil so viel Zeit vergangen war, ließ Shari den Blick zum Nachbarstein wandern. Der Narr der Berge war verschwunden, als hätte ihn eine Windböe fortgeweht.
Der Stein hatte sich nicht bewegt, doch im Gegensatz zu seinen früheren Versuchen ärgerte sich Shari nicht darüber. Sein Gefühl sagte ihm, dass der Narr ihm den Schlüssel
zum Erfolg gegeben habe und dass er von nun an diesem Weg folgen müsse. Der Stein war nicht fortgeflogen, aber er war der Komplize seiner inneren Stille gewesen. Und er – Shari – war mit der Seele der Materie verschmolzen gewesen. Das Wesentliche hatte er erreicht.
Sein Herz war voller Freude und Dankbarkeit. Er bedauerte, sie seinem seltsamen Lehrer nicht bezeugen zu können, doch er ahnte, dass dies nur der Anfang einer langen Freundschaft war, und dass sie sich wiedersehen würden. Er stand auf und streckte sich, um seine steifen Glieder zu lockern, verabschiedete sich mit einem Lächeln von dem Stein, während er zärtlich über ihn strich, und wandte sich zum Gehen.
Der gewundene Pfad zwischen goldenen Farnen, ausgetrockneten, dornigen Büschen lag schon in der Dämmerung und kam ihm kürzer als sonst vor. Er merkte nicht, dass ein schwarz-weißer Aïoule ein paar Meter über seinem Kopf flog und ihm bis zum Rand des großen Vulkans folgte, in dessen Krater die Menschen die Stadt Exod gebaut hatten.
Shari ging über die Haupttreppe, die sich zuerst am Rand des Kegels zickzackförmig emporwand und dann in einer breiten Öffnung endete, die alte Ameurynen »Hexenloch« nannten. Der innere Durchmesser dieses großen Kraters betrug zwei Kilometer, und in die Wände hatten die Menschen ihre Behausungen gegraben
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