Kriegsgebiete
er mitten in
der Bewegung inne. Vielleicht war gerade irgendein kaputter Mensch
dabei, sich zu öffnen und vor dem Therapeuten sein ganzes
gestörtes Dasein auszubreiten. Bisher hatte Daniel bei seinen
Besuchen das kleine New-York-Foto angesehen, nie den viel größeren
Marc-Chagall-Kunstdruck. Er stellte sich direkt vor die bunten
Farben. Fast ein bisschen zu nahe, um einen Überblick über
das gesamte Bild zu haben. Es wurde dominiert von einem Wesen mit dem
Kopf eines Hahns, den Rundungen eines gleichzeitig männlichen
wie weiblichen menschlichen Körpers und Flügeln, die
genauso gut zu einem Engel wie zu einem Insekt gehören konnten.
Zusammenhanglos tauchten auch ein Geiger, eine Artistin auf einem
Zirkuspferd und eine Braut auf einer Schaukel auf. Daniel mochte
keine Gemälde ohne klare Aussage. Die vielfältigen
Interpretationsmöglichkeiten des Chagalls nervten ihn. So was
hängen sich Therapeuten in ihr Wartezimmer, weil man alles
hineindeuten kann. Ich lass mich doch nicht von einem Scheißbild
manipulieren, dachte Daniel und setzte sich wieder in den unbequemen
Korbstuhl. Nach ein paar Minuten stand er auf, nahm den Chagall ab,
drehte ihn um und lehnte ihn an die Wand. Den Kunstdruck Richtung
Raufasertapete. Daniel holte sich wahllos eine der auf dem Couchtisch
ausgelegten Zeitschriften und setzte sich wieder. Er sah auf das
Titelbild. Ein überdimensionales Seepferdchen leuchtete ihm gelb
entgegen. Die Januar-Ausgabe der Zeitschrift Tauchen versprach
einen Unterwasser-Geheimtipp in Sachsen-Anhalt. Er sah sich das
Seepferdchen an, ohne die Zeitschrift aufzuschlagen. Nach ein paar
Minuten legte er sie auf den Nachbarstuhl und stand auf.
Er
klopfte an der Tür zu Doktor Hamanns Arbeitszimmer und wartete.
Keine Antwort. Vielleicht war Hamann im Gesprächsraum. Daniel
klopfte ein weiteres Mal. Diesmal lauter. Wieder keine Antwort. Er
zögerte einen Moment, aber dann drückte er doch die Klinke
nach unten und öffnete die Tür langsam einen Spalt. Der
Gummibaum stand stoisch neben dem Schreibtisch. Blaues Licht strahlte
aus dem Computermonitor auf einige Blätter. Sie sahen
weihnachtlich aus.
»Doktor
Hamann?«, fragte Daniel bewusst leise, so leise, dass seine
Stimme keinen Widerhall in der Schädelhöhle verursachte. Er
wollte keinen therapeutischen Schlüsselmoment unterbrechen, der
dunkle Kindheitserinnerungen oder ein Geburtstrauma aufdeckte. Keine
Antwort. Vorsichtig betrat Daniel das Zimmer. In diesem Moment
schossen ihm Bilder aus Afghanistan durch den Kopf. Warum denn
jetzt?, dachte Daniel. Scheiße, ich habe kein Back-up, keine
Kameraden, die mir den Arsch absichern. Ehrlich gesagt mache ich mir
um meinen Arsch die wenigsten Sorgen. Mehr um meinen Kopf. Warum denn
jetzt? Scheißparanoia. Da muss ich mit Hamann drüber
reden.
Jeder
Schritt auf dem Parkettboden knarzte so laut, als wolle das
Fischgrätmuster einen Alarm auslösen. Die Tür zum
Gesprächsraum war einen Spalt geöffnet.
»Doktor
Hamann?«, fragte Daniel vorsichtig. Wieder ohne Antwort.
Vorsichtig zog er die Tür auf. Sofort wusste er, dass er den
Eingang zur Hölle geöffnet hatte. Seine nächsten
Bewegungen führte er instinktiv aus. Daniel war sich nicht
sicher, wie er zuerst wahrgenommen hatte: olfaktorisch oder visuell.
Blutgeruch oder Blutlache. Sofort brachte er sich in Deckung. Mit dem
Rücken presste er sich gegen die Wand neben der Tür. Alle
seine Sinne waren hochgefahren. Er versuchte zu hören, ob
irgendwelche Geräusche aus dem Nachbarraum kamen, aber seine
Atemgeräusche überdeckten alles. Ruhig werden, dachte
Daniel, ruhig werden. Es dauerte eine Weile, bis er seine Atmung
unter Kontrolle hatte. In der ganzen Praxis war kein Geräusch zu
hören. Ein schneller Schritt nach vorn, eine Drehung. Daniel
stürzte ins Zimmer und sprang über die Lache am Boden. Bloß
nicht im Blut ausrutschen und wie ein hilfloser Käfer mit dem
Rücken auf dem Parkett liegen. Schnell drehte er sich um die
eigene Achse. Außer den Pflanzen war nichts Lebendiges mehr in
dem idyllischen Wintergarten.
Doktor
Hamann saß in seinem lederbezogenen Stuhl. Den Kopf in einer
befremdlichen Seitenlage. Der Brustkorb war komplett zerfetzt, aber
die Wunden hatten bereits aufgehört zu bluten. Daniel überlegte,
ob er am Hals seines Therapeuten nach dem Puls, einem noch so
schwachen Puls, suchen sollte. Er ließ es bleiben. Jahrelange
Erfahrung mit tödlichen Wunden. Doktor Hamann war ganz tot, so
freundlich auch das Licht der untergehenden Sonne durch
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