Kriegsgebiete
Entdeckungsreisenden. Als er feststellen
musste, dass Amundsen vor ihm am Südpol war, hat er genau so
unglücklich geguckt wie der Pinguin.«
»Scott
und alle seine Begleiter sind auf dem Rückweg vom Südpol
ums Leben gekommen. Weil sie mit Ponys statt Schlittenhunden
unterwegs waren. Unter anderem. Es gab noch ein paar weitere Gründe.
Keine fröhliche Geschichte.«
»Ich
sag ja: Der Pinguin guckt unglücklich. Scott, der Pinguin, ist
die Reinkarnation von Scott, dem Antarktisforscher.«
»Für
dein Alter kennst du ziemlich komplizierte Worte.«
»Für
mein Alter bin ich weit entwickelt.«
Daniel
und Lea schauten sich in die Augen. Der abgeklärte väterliche
Blick funktionierte in solchen Momenten nicht richtig.
»Eine
Fender soll gut sein«, sagte Daniel. »Das ist nicht nur
eine E-Gitarre, sondern eine Legende.«
»Hab
ich auch schon gehört.«
»Ich
hatte in Afghanistan einen Kameraden, einen Bundeswehrarzt, der
schwor auf die Fender. Der wollte keine andere E-Gitarre spielen. Er
war ein richtig guter Gitarrist.«
»Spielt
er in einer Band?«, fragte Lea lächelnd.
Daniel
schüttelte den Kopf.
»Nicht
mehr. Er ist tot.«
»Wie
Kurt Cobain.«
»Ja.
Darauf läuft es hinaus. Sag mal, ist bei euch zu Hause alles
okay?«
Lea
nickte misstrauisch.
»Klar.
Warum fragst du?«
»So
allgemein.«
»Die
Internet-Verbindung in der neuen Wohnung ist scheiße.«
»Und
wie verstehst du dich mit Rainer?«
»Mama
versteht sich mit ihm.«
»Und
du?«
»Geht
so. Er gibt sich Mühe.«
»Gut.«
Daniel
und Lea sahen sich lange an. Jeder hielt ein Fahrrad am Lenker.
»Ich
muss jetzt wirklich gehen«, sagte Lea, »sonst macht sich
Mama Sorgen.«
»Klar.«
Lea
drückte Daniel. Nur eine flüchtige Umarmung, aber Daniel
spürte sie überall am Körper.
»Wenn
du Probleme hast, kannst du jederzeit zu mir kommen«, sagte
Daniel. Gleich danach merkte er, dass sein Tonfall ein wenig zu
feierlich klang, mehr als das: Pathetisch.
»Was
denn für Probleme?«
»Egal.
Alle Probleme.«
»Okay.«
»Du
weißt ja, wo du mich findest.«
Als
Lea in die Pedale trat, rief Daniel ihr hinterher: »Ich denke
auf jeden Fall an deinen Geburtstag!«
Leas
bunt gestreifte Strümpfe leuchteten in der Sonne. Daniel sah ihr
hinterher, bis sie mit dem Fahrrad ums Eck bog. Er kramte die
Erdnuss-Packung aus der Hosentasche und schüttete Nüsse in
die hohle Hand. Ein paar sprangen über die Handfläche. Die
meisten von ihnen verschwanden in einem Gully, aber ein paar
wagemutige Nüsse sprangen über den Asphalt. Sie blieben ein
paar Meter entfernt liegen. Daniel führte die Hand zum Mund. Er
öffnete ihn so weit er konnte. Die Nüsse passten kaum in
ihn hinein. Sie füllten den ganzen Mund aus. Das Kauen bereitete
ihm Mühe, aber es gefiel ihm, seine Kiefer zu spüren. Er
stieg in die Pedale und überfuhr jede einzelne Nuss auf dem
Asphalt. Er musste sogar einmal umkehren, weil er eine Nuss verfehlt
hatte, aber dann gab er ihr den Rest.
Danach
fuhr er zu Doktor Hamann. Die Straßen der Stadt waren schöner,
als er sie in Erinnerung hatte. Lag vielleicht an der Sonne. Dem
Schatten der Häuser. Am Licht, das zwischen den Mauern
hindurchglitt wie ein Kuchenmesser durch zwei Tortenstücke. Wie
ein beleuchtetes Kuchenmesser.
Daniel
kettete das Bike an den gusseisernen Zaun vor Doktor Hamanns Praxis
und ging mit schnellen Schritten über die großen
Granitplatten, die zu der lindgrünen Gründerzeit-Villa
führten. Er war ein paar Minuten zu spät. Früher war
er zu allen Verabredungen pünktlich erschienen, ohne sich
anstrengen zu müssen. Einfach gutes Timing. Seit Afghanistan war
das Timing genauso zerschossen wie alle seine anderen Vorzüge,
die sich nicht mit körperlicher Ertüchtigung
aufrechterhalten ließen. Daniel wusste, dass Doktor Hamann
Verständnis für die Verspätung haben würde.
Immerhin hatte er seinem Therapeuten Zugang zu ein paar Minenfeldern
im Hirn gewährt, die er am Anfang der Sitzungen noch sorgsam zu
tarnen versuchte. Und er würde von seiner Begegnung mit Lea
erzählen. Wie lebendig sie vor der orangefarbigen Musikschule
ausgesehen hatte. Es gab keinen besseren Pfadfinder durch die
Kraterlandschaft seiner Psyche als Hamann. Außer Timo
vielleicht. Natürlich wusste der Psychologe, dass er ein Problem
mit Verabredungen hatte. Date-Panik war noch der tröstlichste
Begriff, der Daniel zu seinem derzeitigen Zustand einfiel. Außer
den allwöchentlich wiederkehrenden Treffen mit Lea und Doktor
Hamann vermied Daniel
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