Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition)
die Stimmung in einem Brief an seine Mutter vom 7. November:
Wenn die Russen so stark sind, wie man behauptet, müssen wir die Belagerung aufgeben, denn es wird allgemein eingeräumt, dass wir mit unserer gegenwärtigen Stärke nichts gegen Sewastopol ausrichten können. Die Flotte ist nutzlos und die Arbeit nun so belastend, dass Hunderte, wenn das kalte Wetter anbricht, Überanstrengung und Krankheit zum Opfer fallen müssen. Manchmal erhalten die Männer weniger als eine Nachtruhe von sechs Stunden, und oftmals arbeiten sie 24 Stunden hintereinander. Man muss bedenken, dass sie keine zusätzliche Bekleidung außer einer dünnen Decke haben und dass die Kälte und Feuchtigkeit nachts sehr streng sind. Auch die Tatsache, dass wir dauernd in einem Zustand der Unruhe sind, weil unsere Gräben, Batterien und Redouten angegriffen werden könnten, macht einen ungestörten, erholsamen Schlaf unmöglich.
Die Zahl der Desertionen aus den alliierten Schützengräben nahm beträchtlich zu, als die Winterkälte in den Wochen nach Inkerman einsetzte: Hunderte von britischen und französischen Soldaten liefen zur russischen Seite über. 65
Für die Russen war die Niederlage bei Inkerman ein vernichtender Schlag. Menschikow gelangte zu der Überzeugung, dass der Fall von Sewastopol unvermeidlich sei. In einem Brief vom 9. November an Kriegsminister Fürst Dolgorukow empfahl er, die Stadt aufzugeben, damit die russischen Streitkräfte sich auf die Verteidigung der übrigen Krimgebiete konzentrieren konnten. Der Zar war außer sich über diesen Defätismus seines Oberbefehlshabers. »Welchen Sinn hatten das Heldentum unserer Soldaten und die schweren Verluste, wenn wir die Niederlage hinnehmen?«, schrieb er Menschikow am 13. November. »Haben unsere Feinde nicht auch hohe Verluste erlitten? Ich kann mich Ihrer Meinung nicht anschließen. Unterwerfen Sie sich nicht, sage ich, und raten Sie anderen nicht, es zu tun … Wir haben Gott auf unserer Seite.« Trotz dieser kämpferischen Worte verfiel der Zar nach Inkerman in eine tiefe Depression, und seine Niedergeschlagenheit entging niemandem am Hof. Früher hatte Nikolaus versucht, seine Gefühle vor den Höflingen zu verbergen, doch dazu war er nun nicht mehr fähig. »Der Palast in Gattschina ist finster und still«, notierte Tjutschewa in ihrem Tagebuch. »Überall herrscht Depression. Die Menschen wagen kaum, miteinander zu sprechen. Der Anblick des Souveräns könnte einem das Herz brechen. In letzter Zeit ist er immer mürrischer geworden; sein Gesicht ist verhärmt und sein Blick leblos.« Die Niederlage ließ Nikolaus das Vertrauen zu den Befehlshabern verlieren, die ihm eingeredet hatten, dass der Krieg auf der Krim gewonnen werden könne. Er bedauerte seine Entscheidung, gegen die Westmächte in den Krieg zu ziehen, und suchte Trost bei Beratern wie Paskewitsch, die den Konflikt stets abgelehnt hatten. 66
»Empörender Verrat«, schrieb Tolstoi am 2. November in seinem Tagebuch über die Niederlage.
Die 10. und 11. Division griffen die linke Flanke des Gegners an … Da setzte der Gegner 6000 Stutzen ein, ganze 6000 gegen 30 000. Und wir wichen zurück und verloren etwa 6000 tapfere Männer. ******** Wir mussten zurückweichen, denn die Hälfte unserer Truppen hatte infolge Unpassierbarkeit der Straßen keine Artillerie und aus Gott weiß was für einem Grunde keine Schützenbataillone. Ein entsetzliches Morden. Viele haben es auf ihrem Gewissen! Herr, vergib ihnen. Die Nachricht hierüber hatte eine erschütternde Wirkung. Ich sah Greise, die laut aufschluchzten, und junge Männer, die schworen, Dannenberg umzubringen. Wie groß ist doch die moralische Stärke des russischen Volkes. Viele politische Wahrheiten werden in diesen für Rußland so schwierigen Tagen sichtbar und nehmen deutliche Formen an. Die glühende Vaterlandsliebe, die mit Rußlands Unglück aufflammte und alle ergriff, wird ihre Spuren für lange Zeit hinterlassen. Die heute bereit sind, ihr Leben zu opfern, werden Rußlands Bürger sein und ihre Opfer nicht vergessen. Mit Würde und Stolz werden sie an gesellschaftlichen Angelegenheiten teilhaben, und die durch den Krieg geweckte Begeisterung wird sie für alle Zeiten zu opferbereiten und edeldenkenden Menschen machen. 67
Seit dem Rückzug der russischen Armee aus Silistra hatte Tolstoi ein bequemes Leben in Kischinjow geführt, wo sich Gortschakows Hauptquartier befand, aber bald wurde er der Bälle und des Kartenspiels, bei dem er hohe Summen
Weitere Kostenlose Bücher