Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition)
verlor, überdrüssig und träumte davon, wieder an den Kämpfen teilzunehmen. »Nun, da ich jeden Komfort, eine gute Unterbringung, ein Klavier, gutes Essen, regelmäßige Beschäftigung und einen prächtigen Freundeskreis habe, sehne ich mich wieder nach dem Lagerleben und beneide die Männer dort draußen«, schrieb Tolstoi seiner Tante Toinette am 29. Oktober. 68
Getragen von dem Wunsch, etwas für seine Mitmenschen zu tun, plante Tolstoi mit mehreren Offizierskameraden, eine Zeitschrift zu gründen. Dieser Soldatenbote sollte der Bildung der Männer dienen, ihre Moral stärken und ihren Patriotismus und ihre Menschlichkeit der übrigen russischen Gesellschaft deutlich machen. »Das Projekt erfreut mich sehr«, schrieb Tolstoi seinem Bruder Sergej. »Die Zeitschrift wird Beschreibungen von Schlachten veröffentlichen – nicht so langweilige und unwahre wie in anderen Journalen – , mutige Taten, Biografien und Nachrufe auf würdige Männer, besonders kaum bekannte; Kriegsgeschichten, Soldatenlieder, leicht lesbare Artikel über das Geschick der Pioniere etc.« Um den Soldatenboten zu finanzieren, der so billig sein sollte, dass auch die Soldaten ihn sich leisten konnten, zweigte Tolstoi Geld vom Verkauf des Familiensitzes in Jasnaja Poljana ab, den er in jenem Herbst hatte abstoßen müssen, um seine Verluste beim Kartenspiel bezahlen zu können. Tolstoi schrieb einige seiner ersten Erzählungen für die Zeitschrift: »Wie russische Soldaten sterben« und »Onkelchen Schdanow und der Kavalier Tschernow«. In der zweiten Erzählung stellte er die Brutalität eines Armeeoffiziers bloß, der einen seiner Männer schlug, nicht weil dieser etwas falsch gemacht hatte, sondern »weil er Soldat war und weil Soldaten geprügelt werden müssen«. Da Tolstoi wusste, dass derlei die Zensur nicht passieren würde, ließ er die beiden Geschichten fallen, bevor er Gortschakow die Idee für die Zeitschrift unterbreitete. Dieser reichte die Unterlagen weiter ans Kriegsministerium, doch der Zar wies den Vorschlag zurück, da er nicht wollte, dass eine inoffizielle Soldatenzeitschrift mit Der russische Invalide , der Armeezeitung der Regierung, konkurrierte. 69
Durch die Niederlage von Inkerman wurde Tolstoi darin bestärkt, auf der Krim zu kämpfen. Einer seiner engsten Kameraden – Komstadius, mit dem zusammen er den Boten hatte herausgeben wollen – war bei Inkerman gefallen. »Sein Tod war es vor allem, der mich bewog, um meine Entsendung nach Sewastopol zu bitten«, schrieb er am 2. November in seinem Tagebuch. »Ich habe mich irgendwie vor ihm geschämt.« Später erklärte Tolstoi seinem Bruder, dass sein Antrag »hauptsächlich auf Patriotismus« beruhte, »einem Sentiment, das, ich gestehe es, zunehmend von mir Besitz ergreift«. 70 Doch genauso wichtig für seine Entscheidung, auf die Krim zu reisen, könnte das Gefühl seiner Bestimmung als Schriftsteller gewesen sein. Tolstoi wollte den Krieg erleben und darüber schreiben, um dem Volk die ganze Wahrheit – sowohl die patriotischen Opfer der einfachen Soldaten als auch die Fehler der Militärführung – zu enthüllen und dadurch den Prozess der politischen und gesellschaftlichen Reform in Gang zu setzen, zu dem der Krieg seiner Meinung nach führen musste.
Tolstoi traf am 19. November in Sewastopol ein, fast drei Wochen nach seinem Aufbruch in Kischinjow. Zum Leutnant befördert, wurde er der 3. Leichten Batterie der 14. Artilleriebrigade zugeteilt und zu seinem Ärger in der Stadt selbst, weit entfernt von den Verteidigungsanlagen, einquartiert. Er hielt sich in jenem Herbst nur neun Tage in Sewastopol auf, erlebte jedoch genug, um ihn in dem patriotischen Stolz und der Hoffnung auf das einfache russische Volk zu bestärken, welche die Seiten von »Sewastopol im Dezember« füllten, der ersten seiner Sewastopoler Erzählungen , mit denen er sich einen literarischen Namen machte. »Der Geist in der Truppe ist über alles Lob erhaben«, schrieb er Sergej am 20. November:
Ein verwundeter Soldat, halb im Sterben liegend, erzählte mir, wie sie am 24. dabei waren, eine französische Batterie zu nehmen, und keine Verstärkung erhielten; er weinte wie ein Kind. Eine Kompanie Matrosen hätte um ein Haar gemeutert, weil man sie von einer Batterie ablösen wollte, an der sie dreißig Tage im Granatfeuer ausgeharrt hatte. Die Soldaten reißen die Zünder aus den Granaten, Frauen bringen Wasser für die Soldaten auf die Bastionen. Viele wurden getötet und verwundet …
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