Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition)
Pferde oder mit bäuerlichen Ochsenkarren auf verschneiten und schlammigen Straßen aus Südrussland herbeischaffen. Eisenbahnen gab es nicht. Zur Zeit des Orkans fehlte es überall auf der Krim an Heu, und die Zugtiere starben in alarmierender Zahl. Pirogow sah in der ersten Dezemberwoche »die geschwollenen Kadaver von Ochsen überall entlang der Straße« von Perekop nach Sewastopol. Im Januar hatte die russische Armee auf der Krim nur noch 2000 Karren für den Nachschubtransport, ein Drittel der Zahl von Anfang November. In Sewastopol wurden die Rationen drastisch verringert, und man musste sich mit dem verfaulten Pökelfleisch der toten Ochsen begnügen. Tolstoi, der im Dezember nach Eski-Ord bei Simferopol versetzt wurde, stellte fest, dass die Soldaten keine Wintermäntel, dafür aber üppige Wodkavorräte hatten, mit denen sie sich warmhalten sollten. In Sewastopol froren und hungerten die Verteidiger der Bastionen nicht weniger als die Briten und Franzosen in den Schützengräben. Täglich desertierte in diesen Wintermonaten mindestens ein Dutzend Russen. 45
Der Hauptgrund, warum der Zar keine große neue Offensive auf der Krim einleiten wollte, bestand allerdings in seiner wachsenden Besorgnis, dass die Österreicher einen Einmarsch in Russland planten. Der vorsichtige Paskewitsch, der einzige seiner Befehlshaber, dem er nach Inkerman noch vertraute, warnte seit langem vor der österreichischen Bedrohung des russischen Polen, die ihm viel ernster erschien als die Gefahr für die Krim. In einem Brief vom 20. Dezember bewog Paskewitsch den Zaren, für den Fall eines Angriffs durch die Österreicher ein großes Infanteriekorps in die Grenzgebiete von Dubno, Kamenez und Galizien zu schicken, statt es auf die Krim zu entsenden. Die Bedrohung war zwei Wochen zuvor unterstrichen worden, als die Österreicher ein Militärbündnis mit Frankreich und Großbritannien schlossen und versprachen, die Donaufürstentümer gegen Russland zu verteidigen. Im Gegenzug hatten die Alliierten gelobt, Österreich vor Russland zu schützen und den Bestand seiner Besitzungen in Italien für die Dauer des Krieges zu garantieren. In Wirklichkeit ging es den Habsburgern jedoch viel weniger darum, gegen Russland Krieg zu führen, als die Westmächte zu Friedensverhandlungen mit den Russen unter österreichischem Einfluss in Wien zu veranlassen. Aber der Zar war sich immer noch des Verrats der Österreicher bewusst, die ihre Truppen erst im Vorsommer mobilisiert hatten, um die Russen aus den Donaufürstentümern zu vertreiben. Deshalb fürchtete er sie. Zwischen dem 7. Januar und dem 12. Februar schrieb er eigenhändig lange Notizen, in denen er seine Maßnahmen für den Fall plante, dass Russland einem Krieg gegen Österreich, Preußen und die anderen deutschen Staaten ausgesetzt war. Mit jedem Memorandum wuchs seine Überzeugung, dass ein solcher Krieg bevorstehe. Vielleicht war dies ein Symptom der zunehmenden Verzweiflung, die Nikolaus in seinen letzten Tagen ergriff. Er wurde von dem Gedanken verfolgt, dass das gesamte Russische Reich zusammenbrechen könnte und sämtliche Gebietsgewinne seiner Vorfahren durch diesen närrischen »heiligen Krieg« verloren gehen würden. Großbritannien und Schweden könnten Russland von der Ostsee aus angreifen, Österreich und Preußen über Polen und die Ukraine und die Westmächte schließlich vom Schwarzen Meer und vom Kaukasus her. Da es unmöglich war, all diese Gebiete gleichzeitig zu sichern, zerbrach er sich den Kopf darüber, wo er seine Kräfte konzentrieren sollte. Er gelangte zu dem Schluss, dass es letztlich besser wäre, die Ukraine an die Österreicher zu verlieren, als die Verteidigung des Zentrums und »des Herzens von Russland« zu schwächen. 46
Da der Zar befürchtete, dass die Westmächte neue Invasionsstreitkräfte herbeiholen würden, um die Krim bei Perekop vom russischen Festland abzuschneiden, befahl er Anfang Februar endlich eine Offensive, um ihren wahrscheinlichen Landeplatz Jewpatorija zurückzuerobern. Der Hafen war zu dem Zeitpunkt in der Hand von rund 20 000 Türken unter dem Kommando von Omer Pascha, der auch die Kanonen eines Teils der alliierten Flotten zur Verfügung hatte. Die Verteidigungsanlagen des Hafens, zu denen 34 schwere Geschütze gehörten, waren so beachtlich, dass Generalleutnant Baron Wrangel, der Befehlshaber der russischen Kavallerie in der Gegend von Jewpatorija, die Einnahme der Stadt für unmöglich hielt und die Verantwortung für eine
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