Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition)
immer ihm in die Hände fiel. Christliche Häuser, Schulen und Kirchen wurden ausgeraubt und niedergebrannt. Laut Finn ermordete man mehrere preußische Konsulatsbeamte sowie ein Dutzend Griechen; außerdem meldete er, dass »elf Frauen nachweislich unter der Auswirkung des Schocks verfrüht Kinder zur Welt gebracht haben « . Schließlich stellten die Soldaten des Sultans die Ordnung wieder her, und am 21. April machte man Lyde vor einem türkischen Gericht in Jerusalem den Prozess; eine gemischte Gruppe aus muslimischen und christlichen Geschworenen sprach den Pfarrer des Mordes frei, verurteilte ihn jedoch dazu, der Familie des Bettlers eine hohe Entschädigung zu zahlen. * Lyde kehrte geistig verwirrt nach England zurück und litt unter der Wahnvorstellung, Christus zu sein. Die Anführer der muslimischen Ausschreitungen wurden nie vor Gericht gestellt, und auch nach vielen Monaten kam es in der Gegend immer wieder zu Überfällen auf Christen. Im August 1856 griff die Gewalt von Nablus auf Gaza über. Im Februar 1857 berichtete Finn, dass 300 Christen »weiterhin in Angst und Schrecken in Gaza lebten « , denn »niemand konnte die muslimischen Fanatiker unter Kontrolle bringen « , und die Christen seien aus Furcht vor Vergeltungsmaßnahmen nicht bereit, Zeugenaussagen zu machen. 23
Mit der Aussicht auf derartige Gewalttaten in fast allen Gegenden ließen die osmanischen Behörden sich Zeit dabei, die neuen Gesetze der religiösen Toleranz im Hatt-i Hümayun anzuwenden. Stratford Canning war zunehmend frustriert über die Hohe Pforte. »Türkische Minister haben sehr wenig Neigung, den Forderungen der Regierung Ihrer Majestät zum Thema der religiösen Verfolgung nachzukommen « , schrieb er an Clarendon. »Sie geben vor, allgemeine Unzufriedenheit unter den Muselmanen zu befürchten, falls sie nachgeben sollten .« Die türkische Teilnahme am Krimkrieg habe zu einem Wiederaufleben des »muslimischen Triumphalismus « geführt, meldete Canning. Durch den Krieg waren die Türken nun stärker auf ihre Souveränität bedacht und lehnten westliche Einmischungen in ihre Angelegenheiten noch nachdrücklicher ab. An der Spitze der türkischen Regierung stand eine neue Generation von Tanzimat-Reformern, die in ihrer persönlichen Position gefestigter waren und weniger von der Protektion ausländischer Mächte und Botschafter abhingen als Reschids Reformergeneration vor dem Krimkrieg. Sie konnten es sich leisten, bei ihrer Umsetzung der Reformen vorsichtiger und pragmatischer zu sein, indem sie die wirtschaftlichen und politischen Forderungen der westlichen Mächte erfüllten, sich jedoch nicht beeilten, die im Hatt-i Hümayun enthaltenen religiösen Versprechen einzulösen. In seinem letzten Jahr als Botschafter drängte Stratford Canning die türkische Regierung immer wieder, den Schutz der Christen im Osmanischen Reich ernster zu nehmen: Dies sei der Preis, den die Türkei für die britische und französische Hilfe im Krimkrieg zu zahlen habe. Besonders verärgert war er darüber, dass Muslime weiterhin wegen des Übertritts zum Christentum hingerichtet wurden, obwohl der Sultan versichert hatte, die Christen vor religiöser Verfolgung zu schützen und die »barbarische Praxis der Tötung von Abtrünnigen « abzuschaffen. Am 23. Dezember 1856 schrieb Canning an die Hohe Pforte und nannte zahlreiche Fälle von christlichen Konvertiten, die man aus ihren Häusern vertrieben und ermordet habe:
Die großen europäischen Mächte können nie damit einverstanden sein, durch die Triumphe ihrer Flotten und Armeen in der Türkei die Aufrechterhaltung eines Gesetzes [Apostasie] zu ermöglichen, das nicht nur eine dauernde Beleidigung für sie darstellt, sondern auch eine Quelle der brutalen Verfolgung ihrer christlichen Glaubensgenossen ist. Sie sind berechtigt zu verlangen – und die britische Regierung tut dies ausdrücklich – , dass der Mohammedaner, der zum Christentum übertritt, genauso von jeder Art der Bestrafung ausgenommen wird wie der Christ, der sich dem mohammedanischen Glauben zuwendet. 24
Als Stratford Canning im folgenden Jahr nach London zurückkehrte, hatte die Hohe Pforte freilich immer noch sehr wenig unternommen, um die Forderungen der europäischen Regierungen zu erfüllen. »Unter den Christen « , berichtete Finn im Juli 1857, »wächst ein starkes Gefühl der Unzufriedenheit darüber, dass die türkische Regierung so lange braucht, religiöse Toleranz durchzusetzen .«
Die Christen klagen
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