Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition)
darüber, dass man sie auf den Straßen beschimpft, dass sie vor öffentlichen Gerichten nicht mit muslimischen Landsleuten gleichgestellt, dass sie von fast jedem Posten in der öffentlichen Verwaltung entfernt werden, dass man ihnen die Ehre des Militärdienstes vorenthält und ihnen stattdessen das Doppelte der alten Militärsteuer auferlegt.
In den ländlichen Gebieten Palästinas blieb der Hatt-i Hümayun laut Finn viele Jahre lang unbeachtet. Die örtlichen Statthalter waren korrupt, undiszipliniert und eng mit den muslimischen Honoratioren, Geistlichen und Beamten verbunden, welche die Christen nicht aufsteigen ließen. Die Hohe Pforte wiederum war zu weit weg und zu schwach, um die Amtspersonen in die Schranken weisen, geschweige denn sie zur Einhaltung der neuen Gleichheitsgesetze zwingen zu können. 25
Besonders dauerhafte Konsequenzen für das Osmanische Reich sollte das Versäumnis der Hohen Pforte, die Reformen durchzuführen, jedoch auf dem Balkan haben. Überall in der Region, angefangen mit Bosnien im Jahr 1858, erhoben sich christliche Bauern gegen ihre muslimischen Grundherren und Regierungsvertreter. Die Fortsetzung des Millet-Systems sollte nationalistische Bewegungen aufkommen lassen, welche die Osmanen und die europäischen Mächte in eine lange Reihe von Balkankriegen verwickelten und schließlich in den Konflikten gipfelten, die den Ersten Weltkrieg auslösten.
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Der Pariser Vertrag sorgte für keine bedeutenden territorialen Veränderungen in Europa. Vielen schien das Ergebnis im Nachhinein keinen Krieg zu rechtfertigen, in dem so viele Menschen gestorben waren. Russland trat das südliche Bessarabien an die Moldau ab, doch davon abgesehen, handelte es sich bei den Vertragsartikeln eher um Grundsatzerklärungen: Die Unabhängigkeit und Integrität des Osmanischen Reiches wurde von den Großmächten bestätigt und garantiert (dies war die erste Anerkennung eines muslimischen Staates durch das Völkerrecht, denn auf dem Wiener Kongress hatte man die Türkei bewusst von den europäischen Mächten ausgeschlossen, für die das internationale Recht galt); der Schutz der nichtmuslimischen Untertanen des Sultans wurde von den Unterzeichnerstaaten gewährleistet, womit man den Anspruch Russlands aufhob, die Christen des Osmanischen Reiches zu beschützen; das Protektorat Russlands über die Donaufürstentümer wurde durch eine Klausel annulliert, welche die Autonomie dieser beiden Staaten unter osmanischer Oberherrschaft bestätigte; und – was am erniedrigendsten für die Russen war – durch Artikel XI wurde das Schwarze Meer zu einer neutralen Zone erklärt, die in Friedenszeiten nur für die Handelsschifffahrt, nicht jedoch für Kriegsschiffe zugänglich sei, wodurch Russland seine Marinehäfen und Flottenarsenale an dieser so wichtigen südlichen Küstengrenze verlor. 26
Wenngleich der Pariser Vertrag keine unmittelbaren Änderungen auf der europäischen Landkarte vornahm, markierte er doch eine wichtige Zäsur für die internationalen Beziehungen und die große Politik, denn er beendete de facto das alte Gleichgewicht der Kräfte, durch das Österreich und Russland den Kontinent wechselseitig kontrolliert hatten. Gleichzeitig entstanden durch den Vertrag neue Bündnisse, die dem Aufkommen von Nationalstaaten in Italien, Rumänien und Deutschland den Weg bereiten sollten.
Zwar wurde Russland durch den Pariser Vertrag bestraft, doch auf längere Sicht war es Österreich, das infolge des Krimkriegs, an dem es kaum teilgenommen hatte, die größten Verluste hinnehmen musste. Ohne sein konservatives Bündnis mit Russland, das ihm seine 1854 gewählte Position der bewaffneten Neutralität zugunsten der Alliierten nie völlig verzieh, und von den liberalen westlichen Staaten wegen seiner reaktionären Politik und seiner »Russland gegenüber nachsichtigen « Friedensinitiativen während des Krieges gleichermaßen mit Argwohn betrachtet, sah sich Österreich nach 1856 auf dem Kontinent zunehmend isoliert. Infolgedessen musste es Einbußen in Italien (im Krieg von 1859 gegen Franzosen und Piemonteser), in Deutschland (im Krieg von 1866 gegen die Preußen) und auf dem Balkan (wo es sich von den 1870er Jahren bis 1914 stetig zurückzog) hinnehmen.
Nichts von alledem war im April 1856 ersichtlich, als sich Österreich mit Frankreich und Großbritannien zu einer Dreierallianz zusammentat, um die Pariser Regelung zu verteidigen. Die drei Mächte unterzeichneten eine Vereinbarung, wonach jeder
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