Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition)
den Erlass zu viele Zugeständnisse gemacht würden. Eine erboste Gruppe muslimischer Theologen und Studenten plante eine Verschwörung gegen den Sultan und dessen Minister, doch sie wurden 1859 verhaftet. Im Verhör behaupteten die Anführer, der Hatt-i Hümayun verstoße gegen die Scharia, da er Christen die gleichen Rechte wie Muslimen gewähre. Scheich Ahmet, einer der Hauptverschwörer, erklärte, dass die Christen solche Rechte nur mit Hilfe ausländischer Staaten erhalten hätten und dass die Zugeständnisse das Ende der privilegierten Stellung des Islams im Osmanischen Reich nach sich ziehen würden. 22
Ihre Ansichten wurden von vielen Amtsträgern und Nutznießern der alten muslimischen Hierarchie – örtlichen Paschas, Statthaltern, Grundbesitzern und Honoratioren, Geistlichen und Beamten, Steuerpächtern und Geldverleihern – geteilt. Sie alle befürchteten, dass die besser ausgebildeten und aktiveren christlichen Minderheiten, falls man ihnen bürgerliche und religiöse Gleichheit gewährte, bald das politische und gesellschaftliche System dominieren würden. Seit Jahrhunderten hatte man den Muslimen des Reiches gesagt, die Christen seien ihnen unterlegen. Angesichts des drohenden Verlusts ihrer privilegierten Stellung wurden sie deshalb nun immer rebellischer. Unruhen und Angriffe von Muslimen auf Christen ereigneten sich 1856 in Bessarabien, Nablus und Gaza, 1857 in Jaffa, 1858 im Hijaz und 1860 im Libanon und in Syrien, wo 20 000 maronitische Christen von Drusen und Muslimen abgeschlachtet wurden. In all diesen Fällen verschärften religiöse und wirtschaftliche Gegensätze die Lage: Der Lebensunterhalt von Muslimen in der Landwirtschaft und im Kleinhandel wurde durch die Einfuhr europäischer Güter mit Hilfe von christlichen Zwischenhändlern unmittelbar bedroht. Randalierer überfielen christliche Geschäfte und Häuser, ausländische Kirchen und Missionsschulen und sogar Botschaften, nachdem muslimische Kleriker, die den Hatt-i Hümayun ablehnten, sie aufgewiegelt hatten.
In Nablus, um nur ein Beispiel zu nennen, begannen die Schwierigkeiten am 4. April, kurz nachdem muslimische Führer den Hatt-i Hümayun beim Freitagsgebet angeprangert hatten. Unter den 10 000 Einwohnern von Nablus waren 5000 Christen, die vor dem Krimkrieg friedlich mit den Muslimen zusammengelebt hatten. Der Krieg aber hatte für wachsende Spannungen zwischen ihnen gesorgt: In den Augen der örtlichen Palästinenser, deren religiöser Stolz durch die neuen Gesetze der religiösen Toleranz im Hatt-i Hümayun verletzt wurde, war die Niederlage Russlands ein »muslimischer Sieg « ; die Christen dagegen betrachteten den Kriegsausgang als Triumph der Alliierten. Sie zogen an ihren Häusern in Nablus französische und britische Fahnen hoch und brachten eine neue Glocke über der protestantischen Missionsschule an. Beim Freitagsgebet verurteilten die Ulema diese provozierenden Zeichen westlicher Vorherrschaft und behaupteten, die Muslime würden bald von der englischen Glocke zum Gebet gerufen werden – es sei denn, sie erhöben sich und zerstörten die christlichen Kirchen, was »eine rechte Form des Gebets zu Gott « wäre. Menschenmengen, die einen Dschihad forderten, strömten auf die Straßen von Nablus, und viele Muslime versammelten sich vor der protestantischen Mission, wo sie die britische Fahne herunterrissen.
In dieser angespannten Situation wurde die Gewalt durch einen absonderlichen Vorfall entfacht: Reverend Lyde, ein protestantischer Missionar und Fellow des Jesus College in Cambridge, erschoss versehentlich einen Bettler, der seinen Mantel hatte stehlen wollen. »Das Fass des Fanatismus war voll, und ein weiterer Tropfen brachte es zum Überlaufen « , schrieb James Finn, der britische Konsul in Jerusalem, in einem Bericht über die Angelegenheit. Lyde hatte vor dem Pöbel Zuflucht im Haus des Bürgermeisters Mahmud Bek gesucht, der die Angehörigen des Toten beruhigte und anbot, ihn beerdigen zu lassen. Aber die Ulema waren damit nicht zufrieden. Nach einer Ratssitzung verboten sie die Beerdigung und setzten öffentliche Gebete in sämtlichen Moscheen so lange aus, »bis der Blutpreis des Islam entrichtet ist « . Eine große Menschenmenge erschien mit dem Ruf »Rache an den Christen !« vor dem Haus des Bürgermeisters und verlangte Lydes Auslieferung. Dieser war bereit, sich zu opfern, doch Mahmud Bek lehnte sein Angebot ab, woraufhin der Pöbel durch die Stadt tobte und dabei plünderte und zerstörte, was
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