Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition)
größere Fürsorge gegenüber den Arbeitern und den »bedürftigen Armen « , die ihren Ursprung unter anderem in der Sorge um die Nöte der Soldaten im Krimkrieg hatte. (Diese Sorge bot den Anstoß für eine Reihe von Armeereformen, die Lord Cardwell, Gladstones Kriegsminister, zwischen 1868 und 1871 durchführte. Der Kauf von Offizierspatenten wurde durch ein leistungsabhängiges Beförderungssystem ersetzt und die Dauer des Wehrdiensts für gemeine Soldaten drastisch verkürzt; man verbesserte den Sold und die Lebensbedingungen und verbot das Auspeitschen in Friedenszeiten.)
Das neue Selbstbewusstsein der britischen Mittelschicht wurde auch und gerade durch Florence Nightingale verkörpert. Sie kehrte als Nationalheldin von der Krim zurück, und ihr Bildnis wurde auf Gedenkpostkarten, auf Medaillons und in Form von Figurinen an die Öffentlichkeit verkauft. Die Zeitschrift Punch zeigte sie als Britannia, die statt eines Schildes eine Lampe und statt einer Lanze eine Lanzette trug, und in Versen wies die Zeitschrift darauf hin, dass sie die allgemeine Verehrung mehr verdient habe als jeder schneidige adlige Offizier:
Das Volk mag wild sein oder schwach,
Doch Edelmut gleichwohl kann’s leiten:
Oft findet’s falsche Götter statt der wahren,
Doch hat wahre es entdeckt, lässt es sie nie entgleiten.
Und nun, nach allem, was so unverdient
Und hastig wird gelobt in schwülst’ger Sprache,
Wahrhaftig Englands Herz erglüht
Für dieser großen Frau so heil’ge Sache. 6
In volksnahen Dramen und Salonballaden dienten Nightingales patriotische Hingabe und Professionalität als Ausgleich für den Schaden, der dem Nationalstolz durch die Erkenntnis angetan worden war, dass Dummheit und Misswirtschaft den Soldaten größeres Leid zugefügt hatten als sämtliche Aktionen des Feindes. Beispielsweise enthielt ein Stück, The War in Turkey , das im Britannia Saloon in London aufgeführt wurde, eine Reihe von komischen Szenen, in denen die Inkompetenz der britischen Behörden lächerlich gemacht wurde. Danach erschien »Miss Bird « (Nightingale) und löste sämtliche Probleme. Die Szene endete mit einer moralischen Lektion: »Mit jener jungen Dame haben wir wahren Heroismus vor uns – das Herz, das in ihrem Busen schlägt, ist zu jeglicher Heldentat fähig .« 7
Die Legende von der Lady mit der Lampe wurde zu einem Teil des britischen Nationalmythos und in zahllosen Geschichts- und Schulbüchern sowie in Biografien von Florence Nightingale nacherzählt. Sie enthielt die Grundelemente des viktorianischen Ideals der Mittelschicht: eine christliche Erzählung über weibliche Fürsorge, gute Werke und Selbstaufopferung; eine moralische über Selbstverbesserung und die Rettung der verdienstvollen Armen; eine häusliche über Reinlichkeit, gute Haushaltsführung und die Verbesserung des Heimes; eine Geschichte über individuelle Entschlossenheit und die Durchsetzung des eigenen Willens, die Menschen mit beruflichen Ambitionen ansprach; und eine öffentliche Darstellung der Reform von Gesundheitswesen und Krankenhäusern, der Nightingale den Rest ihres langen Lebens nach der Rückkehr von der Krim widmen sollte.
Im Jahr 1915, als Großbritannien wieder Krieg führte, diesmal mit Russland an seiner Seite, fügte man dem Krim-Kriegerdenkmal eine Statue der Lady mit der Lampe hinzu; man verlegte es eigens zurück zur Regent Street, um genug Platz für die neue Figur zu haben. Zu der Statue Nightingales kam das Standbild eines nachdenklichen Sidney Herbert hinzu, des Kriegsministers, der sie zur Krim geschickt hatte. 8 Es war die verspätete öffentliche Anerkennung für einen Mann, den man unter anderem wegen seiner Familienbeziehungen nach Russland während des Krimkriegs aus dem Amt gejagt hatte.
* * *
An einem sonnigen Freitagmorgen, dem 26. Juni 1857, wohnten die Königin und Prinz Albert einer Parade von Krim-Veteranen im Hyde Park bei. Durch eine königliche Verfügung hatte die Queen im Januar zuvor eine neue Auszeichnung eingeführt, das Viktoriakreuz, mit dem Soldaten ungeachtet ihrer Klassenzugehörigkeit oder ihres Ranges für ihre Tapferkeit belohnt wurden. Andere europäische Länder verfügten seit langem über solche Auszeichnungen: die Franzosen seit 1802 über die Légion d’honneur, die Niederländer über den Militär-Wilhelms-Orden, und sogar die Russen hatten schon vor 1812 eine Verdienstmedaille. In Großbritannien dagegen gab es kein militärisches Auszeichnungssystem, mit dem die Tapferkeit von
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