Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition)
Christen der Türkei setzen können und ob England und Frankreich uns weiterhin Widerstand leisten werden. Die einzige Möglichkeit voranzuschreiten besteht für uns in einem Volksaufstand ( narodnoje wosstanije ) mit dem Ziel der Unabhängigkeit im breitesten und allgemeinsten Maßstab; ohne diese Zusammenarbeit mit dem Volk können wir an eine Offensive nicht einmal denken; der Kampf sollte sich zwischen den Christen und den Türken vollziehen – wobei wir sozusagen in Reserve verbleiben. 6
Nesselrode, der vorsichtige Außenminister des Zaren, versuchte, die revolutionäre Strategie abzuschwächen, und seine Bedenken wurden von den meisten russischen Diplomaten geteilt. In einer Notiz vom 8. November an den Zaren vertrat er die Ansicht, dass die Balkanslawen sich nicht in großer Zahl erheben würden; * die Entfachung von Revolten würde Europa außerdem misstrauisch gegenüber den russischen Ambitionen auf dem Balkan machen, und ohnehin sei es ein gefährliches Spiel, denn die Türkei könne ihrerseits Aufstände durch die Muslime des Zaren im Kaukasus und auf der Krim auslösen. 7
Nikolaus ließ sich freilich nicht von seinem Ziel eines Religionskriegs abbringen. Er sah sich als Verteidiger des orthodoxen Glaubens und wollte seine Mission nicht von einem Außenminister durchkreuzen lassen, dessen protestantische Herkunft seine religiöse Autorität nach Meinung des Zaren beeinträchtigte. Nikolaus hielt es für seine heilige Pflicht, die Slawen von muslimischer Herrschaft zu befreien. In all seinen Erklärungen an die Balkanslawen hob er hervor, dass Russland einen Religionskrieg für ihre Befreiung von den Türken führe. Auf seinen Befehl hin spendeten die russischen Kommandeure den Kirchen der von ihnen besetzten christlichen Ortschaften und Dörfer die eine oder andere Glocke, um sich die Unterstützung der Bevölkerung zu sichern. Außerdem bauten die russischen Soldaten Moscheen zu Kirchen um. 8
Die religiöse Leidenschaft des Zaren vermischte sich mit der umfassenderen militärischen Einschätzung – die für den eher taktisch denkenden Paskewitsch im Vordergrund stand – , wonach die Balkanchristen billige Soldaten und reichliche Mittel im Kampf für die russische Sache stellen könnten. Um 1853 hatte sich Nikolaus den Slawophilen und den Panslawisten sehr viel stärker angenähert, die über eine Reihe von Gönnern am Hof sowie über die Hilfe Barbara Nelidowas, der langjährigen Mätresse des Zaren, verfügten. Laut Anna Tjutschewa, Hofdame und Tochter des Dichters Fjodor Tjutschew, wurden die Ideen der Panslawisten nun offen von Großfürst Alexander, dem Thronerben, und seiner Gemahlin Großfürstin Maria Alexandrowna zum Ausdruck gebracht. Bei mehreren Gelegenheiten hörte sie das Paar davon reden, die natürlichen Verbündeten Russlands seien die Balkanslawen, deren Unabhängigkeitskampf von den russischen Streitkräften unterstützt werden solle, sobald diese die Donau überquert hätten. Gräfin Bludowa, eine weitere Panslawistin am Hofe, bedrängte den Zaren, zum Zweck der Befreiung der Slawen nicht nur der Türkei, sondern auch Österreich den Krieg zu erklären. Sie überreichte Nikolaus zahlreiche Briefe Pogodins, in denen der Panslawistenführer den Zaren aufforderte, die Slawen unter russischer Führung zu vereinen und ein slawisch-christliches Reich mit Sitz in Konstantinopel zu gründen. 9
Die Notizen des Zaren am Rand eines Memorandums von Pogodin enthüllen einiges über sein Denken im Dezember 1853, als er der panslawistischen Sache näher war denn je. Nikolaus hatte Pogodin gebeten, seine Überlegungen zur russischen Politik gegenüber den Slawen im Krieg mit der Türkei zu entwickeln. Die Antwort war ein detaillierter Überblick über die Beziehungen Russlands zu den europäischen Mächten. Darin brachte Pogodin etliche Klagen über den Westen vor. Die Schrift fand offensichtlich Resonanz bei Nikolaus, der Pogodins Meinung teilte, dass die Rolle Russlands als Beschützer der Rechtgläubigen vom Westen nicht anerkannt oder auch nur verstanden und dass das Land ungerecht behandelt werde. Ihm gefiel insbesondere folgende Passage, in der Pogodin gegen die Doppelmoral der Westmächte wetterte, die ihnen gestatte, andere Länder zu erobern, während dies Russland untersagt sei:
Frankreich nimmt der Türkei Algerien weg, und fast jedes Jahr annektiert England ein weiteres indisches Fürstentum: Nichts davon stört das Machtgleichgewicht; doch wenn Russland die Moldau und die Walachei
Weitere Kostenlose Bücher