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Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition)

Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition)

Titel: Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orlando FIGES
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die Türkei durch die Aufgabe der Krim für den Einmarsch in die Fürstentümer entschädigen. Viele dieser Gerüchte wurden von dem kurz zuvor entlassenen Großwesir Mehmet Ali erfunden oder gestreut, um Reschid zu schädigen. Ende August hatte sich Mehmet Ali schließlich an die Spitze einer »Kriegspartei« gesetzt, welche die Oberhand im Großen Rat gewonnen hatte. Von muslimischen Führern unterstützt, hatte er eine vielköpfige Gruppe junger türkischer Amtsträger an seiner Seite, die zwar nationalistisch und religiös waren und westliche Einmischung in osmanische Angelegenheiten ablehnten, denen aber gleichwohl klar war, dass es ein enormer Vorteil für sie sein konnte, wenn Briten und Franzosen auf ihrer Seite Krieg gegen Russland führten. Vielleicht ließen sich dadurch sogar hundert Jahre militärischer Niederlagen gegen die Russen beenden. Um sich die Hilfe der westlichen Flotten zu sichern, waren sie bereit, lästigen Europäern wie Stratford eine stabile Verwaltung zu versprechen, aber sie verwarfen die Tanzimat-Reformen, denn aus ihrer Sicht war die Zuerkennung von mehr Bürgerrechten an Christen eine potenzielle Gefahr für die muslimische Herrschaft. 39
    Die Kriegsstimmung in der türkischen Hauptstadt erreichte einen Höhepunkt in der zweiten Septemberwoche, als eine Reihe von Pro-Kriegs-Demonstrationen stattfand und 60 000 Unterzeichner die Regierung in einer Massenpetition aufforderten, einen »heiligen Krieg« gegen Russland zu erklären. Die Koranschulen (Medresen) und Moscheen dienten als Organisationszentren des Protests, und ihr Einfluss war deutlich an der religiösen Sprache der Plakate abzulesen, die nun überall in der Hauptstadt auftauchten:
    O glorreicher Padischah! All Eure Untertanen sind bereit, ihr Leben, ihr Eigentum und ihre Kinder für Eure Majestät zu opfern. Auch Ihr seid nun der Pflicht teilhaftig geworden, das Schwert Mohammeds aus der Scheide zu ziehen, das Ihr wie Eure Großväter und Vorgänger in der Eyyub-El-Ansari-Moschee umgürtet habt. Das Zaudern Eurer Minister in dieser Frage rührt daher, dass sie dem Übel des Dünkels verfallen sind, und diese Situation kann sich für uns alle (Gott behüte) zu einer großen Gefahr auswachsen. Daher wünschen Eure siegreichen Soldaten und Eure betenden Diener Krieg zur Verteidigung ihrer offenkundigen Rechte, o mein Padischah!
    45 000 Religionsstudenten besuchten die Medresen der türkischen Hauptstadt. Sie waren als Gruppe unzufrieden – die Tanzimat-Reformen hatten ihren Status und ihre Karriereaussichten verringert, indem sie Absolventen der neuen weltlichen Schulen förderten – , und diese soziale Erbitterung verschärfte ihre Proteste. Die türkische Regierung hatte große Angst vor der Möglichkeit einer islamischen Revolution, wenn sie Russland nicht den Krieg erklärte. 40
    Am 10. September legten 35 Religionsführer dem Großen Rat eine Bittschrift vor. Das Gremium debattierte am folgenden Tag über das Papier, und die Londoner Times meldete:
    Die Eingabe bestand hauptsächlich aus zahlreichen Koran-Zitaten, die zum Krieg gegen die Feinde des Islams aufriefen, und enthielt versteckte Drohungen, dass es zu Unruhen kommen werde, falls man nicht auf sie höre und nicht auf sie eingehe. Der Tonfall der Bittschrift ist überaus kühn und grenzt an Unverschämtheit. Einige der wichtigsten Minister versuchten, mit denen, die den Text überreichten, zu diskutieren, doch die Antworten, die sie erhielten, waren kurz und präzise. »Dies sind die Worte des Korans: Wenn ihr Muselmanen seid, müsst ihr ihnen gehorchen. Nun hört ihr auf ausländische und ungläubige Botschafter, die Feinde des Glaubens sind; wir sind die Kinder des Propheten; wir haben eine Armee, und sie verlangt mit uns nach Krieg, damit wir uns für die Beleidigungen rächen können, mit denen die Giauren uns überhäuft haben.« Es heißt, dass die Minister bei jedem Versuch, mit diesen Fanatikern zu rechten, die Antwort erhielten: »Dies sind die Worte des Korans.« Die gegenwärtigen Minister befinden sich unzweifelhaft in einem Zustand der Besorgnis, denn sie betrachten die jetzigen Umstände (ein sehr ungewöhnliches Ereignis in der Türkei) als Beginn einer Revolution und fürchten, zum gegenwärtigen ungünstigen Zeitpunkt in einen Krieg hineingezwungen zu werden.
    Am 12. September setzten die Religionsführer eine Audienz mit dem Sultan durch und stellten ihm ein Ultimatum: entweder den Krieg zu erklären oder abzudanken. Abdülmecid wandte sich um

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