Kristall der Macht
Flüchtlinge nannte, die die Truppen des Königs im Kampf unterstützen sollten, würde den Gonwe vermutlich gerade noch rechtzeitig erreichen, um in die Schlacht zu ziehen. Den Umgang mit der Waffe oder Kampftechniken hingegen würde ihnen niemand mehr beibringen können. Am Ende würde ihre Aufgabe tatsächlich allein darin bestehen, als ein lebender Schutzschild so lange Pfeile und Schwerthiebe abzufangen, bis es den erfahrenen Kriegern möglich war, den Rakschun den Garaus zu machen.
Der Gedanke gefiel Triffin nicht. Alle wehrfähigen Männer und auch Frauen, die Baha-Uddin noch aufbringen konnte, waren längst im Heer vereint. Der Abschaum, der Bodensatz der Gesellschaft, wie Fürst Rivanon die Alten, Kranken und Schwachen gern verächtlich bezeichnete, hatte sich in den Lagern rings um die Stadt versammelt. Sie in den Kampf zu schicken, hatte für Triffin einen bitteren Beigeschmack, ganz so, als wollten der König und Rivanon sich ihrer dadurch geschickt entledigen, ohne sich die Finger schmutzig zu machen. Darüber und über das weitere Vorgehen wollte er sich mit den beiden beraten.
Er hatte das Tor der inneren Palastmauer erreicht, wo er die Wachen zu seinem Entsetzen schlafend an die Mauer gelehnt vorfand. Ein Krug, dessen einstiger alkoholischer Inhalt sich noch immer am scharfen Geruch verriet, lag achtlos fortgeworfen ganz in der Nähe auf dem Boden. »Ihr nichtsnutzigen Trunkenbolde!« Außer sich vor Wut schleuderte Triffin den Krug so hart gegen die Wand, dass er in tausend Scherben zersprang, und versetzte den beiden Wachen mit dem Stiefel einen kräftigen Tritt in den Hintern.
Verschlafen, den Geist noch immer von Alkohol umnebelt, rafften die beiden sich auf und versuchten mit fahrigen Bewegungen ihre Kleidung zu richten. Als sie erkannten, wer da vor ihnen stand, murmelten sie unverständlich eine Entschuldigung.
»Das wird Folgen haben!«, prophezeite Triffin düster, wohl wissend, dass es vermutlich eine leere Drohung bleiben würde. Die mangelnde Disziplin unter den Kriegern war ein Problem, das kaum noch in den Griff zu bekommen war. Dem Genuss von berauschenden Getränken und anderen Drogen konnten selbst härteste Strafen keinen Riegel vorschieben, während sich die aufgestauten Aggressionen, die das beengte und wenig abwechslungsreiche Lagerleben unter den Kriegern hervorrief, nahezu täglich in Schlägereien und brutalen Übergriffen entluden. Besonders schlimm war es Berichten zufolge geworden, seit Azenor verfügt hatte, auch Frauen zu rekrutieren.
Triffin seufzte. Angesichts solcher Auswüchse war es fast zu begrüßen, dass die zermürbende Warterei auf den Angriff der Rakschun in zehn Tagen endlich ein Ende haben würde.
Mit weit ausgreifenden Schritten überquerte er den Hofplatz vor dem Palast. Nicht zum ersten Mal fiel ihm dabei auf, wie still es geworden war. Von dem bunten Treiben, das hier noch vor einem halben Jahr geherrscht hatte, war nichts geblieben. Die Stallungen waren leer, weil die Pferde für die Truppen gebraucht wurden, und von den Bediensteten hatten sich nur wenige einer Zwangsrekrutierung widersetzen können. Mit den verlassenen Plätzen und Gebäuden wirkte der Palast so öde und leblos wie eine unheilvolle Vorahnung. Ganz so, als sei die Schlacht schon geschlagen – und verloren.
Die kleine Gruppe von Neuankömmlingen, die sich vor dem Portal zum Palast eingefunden hatte, erschien angesichts der allgegenwärtigen Leere wie ein Relikt aus längst vergangenen Tagen, und gerade deshalb erregte sie Triffins Aufmerksamkeit. Während er auf das Portal zuging, beobachtete er die Menschen aufmerksam. Es schienen Leute aus dem Flüchtlingslager zu sein, die, wie es aussah, Einlass in den Palast oder eine Audienz beim König verlangten. Dass man ihnen diese verweigerte, war nicht zu übersehen, denn die Wachen bildeten vor der Tür eine geschlossene Reihe und hielten die Spitzen ihrer Speere drohend nach vorn gerichtet.
Die Flüchtlinge wirkten verunsichert und ratlos. Sie standen beisammen und redeten, machten aber keine Anstalten, das Palastgelände zu verlassen. Als Triffin näher kam, bemerkte er, dass es sich bei den Flüchtlingen fast ausschließlich um junge Männer und Frauen in wehrfähiger Verfassung handelte.
Seltsam. Warum waren sie nicht bei den Kriegern am Gonwe?
Er betrat die breite Treppe, die zum Palasteingang hinaufführte, mäßigte seine Schritte und behielt die Flüchtlinge im Auge. Dass sie so weit gekommen waren, war sonderbar. Seit in
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