Kristall der Macht
sagen«, erwiderte Noelani. »Ich kenne weder dieses Land noch dessen König.«
»Wenn wir ihm etwas geben könnten, wäre alles einfacher«, überlegte Samui laut. »Gold zum Beispiel. Gold wäre genau richtig. In den alten Überlieferungen heißt es, den Seefahrern würde es nach Gold verlangen.«
»Vielleicht ist er ein guter Mensch und hilft uns auch so«, versuchte Noelani einzulenken, die Samui nichts von den Kristallen verraten wollte und auch nicht davon, dass seine Gedanken den ihren recht nahe kamen.
»Das kann ich mir nicht vorstellen.« Samui schüttelte den Kopf. »Dann würde sein Volk doch nicht von hier fliehen.«
»Das mag andere Gründe haben.« Sie umrundeten die Landzunge und Noelani atmete auf. »Sieh nur, dahinten kann man die Steinwälle im Meer sehen«, sagte sie, froh, das Thema wechseln zu können. »Jetzt ist es nicht mehr weit. Vom Hafen führt eine breite und gut ausgebaute Straße direkt zur Stadt. Nicht mehr lange, dann sind wir da.«
Eine halbe Stunde später hatten sie die ersten Ausläufer des Hafens erreicht: armselige Fischerhütten mit heruntergekommenen Bewohnern, denen es nur deshalb etwas besser erging als den Flüchtlingen von Nintau, weil sie vier Wände und ein löchriges Dach über dem Kopf hatten und ein kleines Boot ihr Eigen nannten.
Während die Männer wie überall schon früh zum Fischen hinausgefahren waren, saßen die Frauen, die Alten und die Kinder vor den Hütten und flickten Netze. Viele reparierten auch die Dächer ihrer Hütten, denen der Sturm offenbar einen Teil der Strohbedeckung weggerissen hatte.
Als Noelani mit den anderen vorbeiging, schauten die Menschen nur kurz auf und wandten sich gleich wieder ihrer Arbeit zu. Es war ein beklemmendes Gefühl, für Noelani aber auch ein beruhigendes. Sie hatte befürchtet, dass das fremdartige Äußere und die zerlumpte Erscheinung ihrer Gruppe die Aufmerksamkeit der Bevölkerung auf sich ziehen würden. Diese hatten jedoch, wie es schien, selbst so viel Not und Elend erfahren, dass sie kaum Notiz von ihnen nahmen.
Sie ließen den Strand hinter sich und erreichten die breite gepflasterte Straße, die vom Hafen zur Hauptstadt führte. Schnurgerade verlief sie mitten durch die von Binsen und niedrigem Gestrüpp bewachsene Küstenlandschaft, bis hin zu einer imposanten Mauer aus roten Ziegeln, die in der Ferne aufragte.
Nach dem langen Marsch durch feuchten und lockeren Sand entlang der Küste war das harte und ebene Pflaster eine Wohltat. Noelani beschleunigte ihre Schritte. Die Sonne konnte noch nicht lange aufgegangen sein, und sie war guter Hoffnung, die Stadt bis zum Mittag zu erreichen.
»Du hast es aber eilig.« Jamak schloss zu ihr auf und deutete auf den Boden. »Diese Straße zeugt von großem handwerklichem Geschick«, lobte er. »Sieh nur, wie passgenau die Steine bearbeitet wurden. Ein Meisterwerk.«
»Es muss ja nicht alles schlecht sein in diesem Land.« Noelanis Stimme klang gereizter als beabsichtigt, aber sie war in Gedanken schon in der Stadt und überlegte fieberhaft, wie sie es anstellen konnte, dass man sie zum König vorließ. Während ihrer Geistreise hatte sie gesehen, dass am Eingang des Palastes Soldaten Wache standen, die vermutlich erst einmal davon überzeugt werden mussten, dass ihr Anliegen wichtig war. Es galt, die richtigen Worte zu wählen. Was sollte sie sagen?
Das Letzte, wonach ihr der Sinn stand, war, mit Jamak ein Gespräch über das Straßenpflaster zu führen. Selbst wenn die Steine aus purem Gold gewesen wären, hätte sie ihnen in diesem Augenblick keine Beachtung geschenkt.
»Nein, das muss es nicht«, stimmte Jamak ihr zu. »Aber findest du nicht, dass es hier ungewöhnlich leer ist?«
»Nun, es ist noch früh …« Noelani schaute sich um und erkannte, was Jamak meinte. Außer ihnen und einer Gruppe von Reitern, die sich ihnen in der Ferne näherten, war die Straße wie leergefegt.
»Natürlich ist es früh.« Jamak nickte. »Aber nicht mehr so früh, dass hier alle noch schlafen würden. Diese Straße verbindet die Hauptstadt mit dem Hafen, und du hast selbst gesehen, wie viele Menschen sich dort und um die Stadt herum aufhalten. Sie müsste eine wichtige Lebensader für Waren aller Art sein. Stoffe, Nahrungsmittel, Waffen. Die Straße müsste voll sein von Wagen, mit denen die Händler ihre Waren in die Stadt schaffen. Aber es ist nichts und niemand zu sehen.«
»Stimmt.« Noelani wunderte sich, dass ihr das nicht selbst aufgefallen war. Sie musste wohl
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