Kristall der Macht
so in Gedanken versunken gewesen sein, dass sie ihre Umgebung gar nicht richtig wahrgenommen hatte. »Das ist wirklich seltsam, aber das ist es nicht, worüber ich mir Sorgen mache.«
»Was bedrückt dich?« Jamak schaute sie aufmerksam von der Seite her an.
»Ich überlege die ganze Zeit, wie es mir gelingen könnte, zum König vorgelassen zu werden«, gab Noelani ihm ihre Gedanken preis.
»Nun, das kann doch nicht so schwer sein.« Jamak schien ihre Sorgen nicht zu teilen. »Sag einfach die Wahrheit.«
»Dass wir einhundertunddreißig Flüchtlinge von einer todgeweihten Insel sind, die der Sturm zufällig hier an Land gespült hat? Dass wir Hunger und Durst haben? Dass wir weder etwas zum Anziehen noch ein Dach über dem Kopf haben und hoffen, er möge uns all das schenken?« Noelani lachte bitter. »Du hast noch nicht gesehen, was ich gesehen habe«, sagte sie. »Wenn wir in die Nähe der Stadt kommen, wirst du verstehen, warum wir mit so einem Anliegen scheitern werden.«
»Warum?«
»Weil der König sich das vermutlich an jedem Tag Hunderte Male anhören müsste, wenn er seinem Volk Gehör schenken würde. Die Menschen, die rings um die Stadt lagern, sind Flüchtlinge wie wir, und es geht ihnen keinen Deut besser als uns.« Sie schüttelte den Kopf und seufzte. »Verzeih«, fuhr sie schließlich versöhnlich fort. »Ich weiß, dein Vorschlag war ernst und nur gut gemeint, aber ich fürchte, in diesem Fall ist der einfachste Weg nicht der richtige.«
»Und was hast du vor?«
»Ich weiß es nicht.« Noelani sprach so leise, dass die anderen sie nicht hören konnten. »Gestern Abend musste ich Entschlossenheit zeigen«, erklärte sie. »Es ist wichtig, dass unsere Leute nach all dem Furchtbaren das Gefühl haben, es gehe weiter. Und dass es Hoffnung gibt. Deshalb der schnelle Aufbruch. Einen Plan hatte ich nicht. Ich habe gehofft, dass mir unterwegs etwas einfallen würde, aber meine Gedanken drehen sich nur im Kreis.«
»Und jetzt?« Nun wirkte auch Jamak ratlos. »Was ist, wenn die Wachen uns nicht einlassen? Wenn wir den König gar nicht zu Gesicht bekommen?«
»So weit ist es noch nicht.« Noelani war nicht gewillt, vorschnell aufzugeben. Dass sie noch keine Lösung gefunden hatte, hieß nicht, dass es keine gab. Solange sie noch nicht abgewiesen worden waren, war noch vieles möglich. Und vielleicht geschah ja noch ein Wunder. Jamak sagte nichts dazu. Schweigend setzte er den Weg an ihrer Seite fort und hing seinen Gedanken nach. Wenn Noelani ihn anschaute, glaubte sie fast den Wortlaut seiner Gedanken hören zu können. Auch er hatte nun keine Augen mehr für das kunstvoll gearbeitete Pflaster.
* * *
Dei elec reh.
Abe nur guss reife ich fotun friede.
Bed eine gün ist nabla nug tod.
Imme nur. Zel enei habe naluab.
Taube als grube einweh nur. Arkon
Triffin las die wirren Zeilen zweimal, sog die Luft scharf durch die Zähne und rollte das Pergament wieder zusammen, das eine Taube am späten Vormittag in die Hauptstadt getragen hatte.
»Gute Neuigkeiten?« Mael hatte die erschöpfte Taube mit Futter versorgt. Nun betrat er die Schmiede und blickte den General aufmerksam an.
»Die einzige gute Nachricht wäre zu hören, dass die Rakschun abgezogen sind.« Triffin schnitt eine Grimasse. Mael konnte es einfach nicht lassen. Immer wieder versuchte er, etwas über den Inhalt der Botschaften zu erfahren. Und wie immer würde er damit auch diesmal keinen Erfolg haben. »Aber auf so eine Nachricht zu hoffen wäre vergebens.« Er verließ die Schmiede ohne ein Wort des Abschieds und machte sich unverzüglich auf den Weg zum Palast, um dem König von den wichtigen Neuigkeiten zu berichten.
Noch zehn Tage, dann würde der Angriff beginnen.
Ein Irrtum war ausgeschlossen. Der Text dieser wichtigen Botschaft war lange vor Arkons Aufbruch mit dem stummen Schmied abgestimmt worden.
Noch zehn Tage …
Triffin spürte, wie sich sein Herzschlag bei dem Gedanken beschleunigte. Die Nachricht von dem bevorstehenden Angriff kam nicht überraschend. Er hatte täglich damit gerechnet. Dennoch konnte er sie nicht einfach ruhig hinnehmen. Diese Nachricht würde alles verändern.
Zehn Tage waren keine lange Zeit, und obwohl sich die Truppen am Gonwe schon seit Monaten auf die alles entscheidende Schlacht vorbereiteten, plagte Triffin sich jede Nacht mit dem Gedanken, ob auch alles bedacht und vorbereitet war.
Das Heer der unfreiwilligen Freiwilligen, wie er die von Hunger und Not getriebenen
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