Kristall der Macht
wie ihr beim Gedanken an ihre Zwillingsschwester die Tränen kamen. Energisch zwang sie sich zur Ruhe.
»Noch ist nichts gewiss«, murmelte sie leise vor sich hin und betete im Stillen darum, dass alles nur ein furchtbarer Irrtum war. Dann lief sie los.
Was immer sie erwartet hatte, als sie auf das Plateau hinaustrat, das gewiss nicht. Die endlose blaue Weite des Ozeans, der breite weiße Strand, der der Küste ein malerisches Aussehen verlieh, das Dorf mit seinen Hütten und den Booten, die an Stegen im flachen Wasser vertäut waren … von alldem war nichts zu sehen.
Noelani stockte der Atem, als sie den Blick über den schmutzig-gelben Dunst schweifen ließ, der die Welt zu ihren Füßen wie ein Bahrtuch bedeckte. So weit das Auge reichte, gab es nichts als diesen Dunst, aus dem der Dämonenfels, auf dem der Tempel errichtet worden war, wie ein einsamer Riese ragte. Noelani richtete den Blick wieder nach unten, wo sich die wogende Masse keine fünfzig Schritt unter ihr an die Klippe schmiegte, als wären die Wolken selbst zur Erde hinabgesunken und hätten alles mit einem Mantel aus zähem Nebel bedeckt.
Und während sie so dastand und zu verstehen versuchte, hörte sie doch etwas. Ein leises Fiepen drang von irgendwo unterhalb des Plateaus an ihre Ohren. Sie kniete nieder, blickte vorsichtig über die Kante und entdeckte ein Nest nur wenige Armlängen oberhalb des Nebels in einer Nische der Klippe, in dem sich drei junge Kliffschwalben ängstlich aneinanderdrängten. Alle drei besaßen schon das schwarz-weiße Federkleid ihrer Eltern, waren aber wohl noch nicht flügge.
Der Anblick trug ein kleines Licht in die Düsternis von Noelanis Gedanken, denn auch wenn es nur das Fiepen von drei jungen Kliffschwalben war, so war es an diesem unwirklichen Morgen ein Zeichen für Leben. Sie setzte sich auf und wollte sich gerade abwenden, als der wogende Nebel unvermittelt höher stieg und ihr die Sicht auf die jungen Kliffschwalben raubte. Das Fiepen verstummte. Wenige Herzschläge später zog sich der Nebel wieder zurück und gab das Nest wieder frei. Noelani spähte hinunter und spürte einen heißen Stich in der Brust. Die jungen Schwalben waren tot.
So schnell …
Keuchend ließ Noelani sich auf das Plateau zurücksinken. Sie hatte nach Beweisen gesucht und mehr gesehen, als sie ertragen konnte. Semirah hatte die Wahrheit gesagt. Der Dämon war erwacht und hatte sich in seinem jahrhundertealten Zorn bitter an den Bewohnern von Nintau gerächt. Der rasche Tod der jungen Schwalben ließ keinen Raum für Hoffnung. Alle, die sich in dem gelben Dunst befunden hatten, waren tot.
… alle tot! Alle!
Die Dorfbewohner, ihre Eltern, ihre Freunde, Kaori … Noelani presste die Lippen fest aufeinander. Sie haben mir vertraut, dachte sie. Vertraut! Und ich habe versagt. Die Schuld an dem hundertfachen Tod ließ sie innerlich zu Eis erstarren. Kein Laut kam ihr über die Lippen, keine Träne benässte ihre Wange. Sie saß einfach nur da, starrte auf den Boden und wünschte, auch sie hätte der Tod ereilt. Dabei wäre es so einfach, seinem Ruf zu folgen, der Rand der Klippe war so nah. Nur ein paar Schritte und …
»Nicht!«
Eine Hand berührte ihre Schulter. Noelani zuckte zusammen. Für einen Augenblick klammerte sie sich an die Hoffnung, dass ihr Vater dem Giftatem des Dämons auf wunderbare Weise entronnen sei und nun hinter ihr stünde, um sie zu trösten und ihr zu sagen, dass ihrer Mutter und Kaori nichts geschehen sei. Aber es war nicht das wettergegerbte, von schütterem weißem Haar umrahmte Gesicht ihres Vaters, in das sie blickte, als sie sich umwandte. Es war Jamak.
»Tu es nicht«, sagte er noch einmal.
Noelani wandte sich ab. Sie sagte nichts, fühlte nichts, dachte nichts. Starr wie der Dämon, den zu hüten sie geschworen hatte, starrte sie wieder auf das Meer aus giftigen Nebelschwaden hinaus, ohne den Horizont zu sehen und ohne einen Funken Hoffnung im Herzen, während hinter ihrer Stirn unablässig ein einziges Wort aufflammte: Warum?
»Komm.« Dem sanften Druck von Jamaks Hand folgend, richtete Noelani sich willenlos auf wie eine Fadenpuppe und hielt den Blick weiter in die Ferne gerichtet. »Du kannst nichts mehr für sie tun.« Er wandte sich zum Gehen, aber sie rührte sich nicht. Die Leere in ihr war vollkommen.
Warum? Warum …?
»Komm, Noelani!« Sie wusste, dass die Worte ihr galten, aber erst als Jamak sie am Arm fasste, drehte sie sich um und ließ sich von ihm wegführen.
Auf dem
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