Kristall der Macht
Maor-Say von Nintau. Keine Königin, aber die Anführerin derer, die Nebel und Sturm überlebt haben. Ich bin gekommen, um für mein Volk all das von dir zu erbitten.«
Azenor antwortete nicht sofort. Er hatte Noelanis Bericht aufmerksam gelauscht und sie nicht ein einziges Mal unterbrochen. Nicht die kleinste Regung hatte verraten, was er von der Geschichte hielt. Und auch jetzt ließ sich nicht ergründen, ob er Noelani Glauben schenkte oder sie für eine Lügnerin hielt.
General Triffin hingegen wirkte tief berührt. Auch er schwieg, aber die Mimik in seinem Gesicht sprach eine deutliche Sprache. Er glaubte Noelani jedes Wort und fühlte mit ihr.
Je länger das Schweigen andauerte, desto unerträglicher wurde es. Noelani musste sich zusammenreißen, um nicht wieder das Wort zu ergreifen. Sie wusste, dass der König am Zug war, doch der ließ sich Zeit.
»Ich glaube dir«, sagte er schließlich kühl und ohne jedes Bedauern in der Stimme. »Aber ich habe nichts, das ich euch geben könnte. In diesem Land herrscht Krieg. Mein Volk hungert und leidet. Du hast es sicher selbst gesehen. Die Lager vor den Toren der Stadt sind voll von darbenden und kranken Menschen, die sterben werden, wenn nicht ein Wunder geschieht. Es mag grausam klingen, aber als König dieses Landes muss das Wohl meines Volkes für mich an erster Stelle stehen. Was ich entbehren kann, gebührt ihnen. Es würde zu Unruhen und Gewalt führen, wenn ich deinen Leuten etwas zukommen ließe, was ich den meinen vorenthalte.«
Aus den Augenwinkeln sah Noelani, wie General Triffin die Braue des gesunden Auges in die Höhe zog, ganz so, als überraschten ihn die Worte des Königs. Die Bedeutung der Geste erschloss sich ihr nicht, aber sie spürte, dass der König kurz davorstand, die Unterredung zu beenden und fasste den Entschluss, ihr Geheimnis zu lüften.
»Wir erbitten keine Geschenke von dir«, sagte sie. »Wir werden für alles, was wir erhalten, bezahlen.«
»Bezahlen?« Azenor ließ ein verhaltenes Lachen erklingen. »Womit? Sagtest du nicht eben, dass ihr alles verloren habt?«
»Alles bis auf das hier.« Noelani löste den Beutel mit den Kristallen von ihrem Gürtel, öffnete ihn und ließ die fünf funkelnden Edelsteine auf den Tisch gleiten.
»Das sind doch …« Samui sprang auf und beugte sich weit über den Tisch, um besser sehen zu können, aber Jamak riss ihn zurück. »Schweig!«
»Das ist der Schatz meines Volkes«, erklärte Noelani. »Das Wertvollste, was wir je besessen haben, und das Einzige, was wir aus der Heimat retten konnten. Ich möchte die Steine dafür verwenden, Nahrung, Kleidung und Handwerkszeug zu erwerben und etwas Land, auf dem wir siedeln können.«
»Das sind die größten Edelsteine, die ich jemals gesehen habe.« Ehrfürchtig nahm Azenor einen der Steine zwischen Daumen und Zeigefinger, hielt ihn ins Licht und besah ihn sich von allen Seiten. »Ein vortrefflicher Schliff«, sagte er bewundernd. »Kostbar und perfekt. Nie habe ich etwas Schöneres gesehen.« Er verstummte, sichtlich ergriffen von der Pracht der Kristalle. Zum ersten Mal, seit sie den Thronsaal betreten hatte, schöpfte Noelani wieder Hoffnung, dass sich doch noch alles zum Besseren wenden würde. König Azenor mochte kein gütiger Herrscher sein, aber sein Verlangen nach Reichtum würde ihn vielleicht dazu bringen, ihnen das Gewünschte zuzubilligen.
»Einer wie der andere einzigartig und makellos«, hörte sie ihn murmeln, während er nacheinander jeden Stein zur Hand nahm und begutachtete. Noelani war so aufgeregt, dass sie fast zu atmen vergaß, und überglücklich, weil sie daran gedacht hatte, die Steine mitzunehmen. Endlich hatte sie etwas richtig gemacht. Die Steine würden den Grundstock für eine neue Zukunft bilden. Jamak schien ähnliche Gedanken zu hegen, denn er lächelte ihr zu und nickte anerkennend. Samui war einfach nur sprachlos.
»Schön, aber leider ohne Wert.« König Azenor seufzte und legte den fünften Stein wieder zu den anderen.
»Wie … ohne Wert?« Zum zweiten Mal an diesem Tag hatte Noelani das Gefühl, der Boden unter ihr würde seine Festigkeit verlieren. Die Kristalle waren nicht wertlos. Niemals. Sie musste sich verhört haben, oder der König täuschte sich. Oder …
»Wertlos?« Es war das erste Mal, dass Jamak sich zu Wort meldete, und Noelani war ihm dafür unendlich dankbar. Sie war wie vor den Kopf geschlagen und unfähig, etwas zu sagen. »Das ist nicht wahr, König! Und du weißt es. Diese
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