Kristall der Macht
nicht?«
»Nein.« Noelani schüttelte den Kopf. »Ich bin keine Zauberin.«
»Ich sagte doch, der Junge redet wirr«, warf Jamak sichtlich erleichtert ein, verstummte aber sofort, als König Azenor ihm einen scharfen Blick zuwarf. »Dann gibt es diesen Zauber nicht, von dem der Junge gesprochen hat?«, wandte er sich wieder an Noelani.
… Wenn ihr mir Waffen geboten hättet, viele Waffen. Einen mächtigen Zauber, der die drohende Niederlage abzuwenden vermag, oder ein Heer kampferprobter Krieger … Dann hätten wir verhandeln können.
Wie von selbst tauchten Azenors Worte wieder in Noelanis Gedanken auf, und diesmal verstand sie die Botschaft, die darin mitschwang. Die Steine, so wertvoll sie auch sein mochten, würden ihrem Volk nicht helfen können. Zusammen mit dem Wissen aber, das in ihr schlummerte, konnte sie viel – konnte sie alles – erreichen, was sie sich erträumt hatte. Und mehr noch: Sie konnte dem bedrängten Volk von Baha-Uddin nicht nur helfen, sich erfolgreich gegen die Angreifer zu wehren, es wäre ihr sogar möglich, den Krieg zu beenden, ehe er begann und auch nur ein einziges Opfer in diesem Land forderte.
Wenn König Azenor das erfuhr, würde er gewiss einlenken. Dann wäre nicht nur ihr Volk gerettet, sondern auch das Volk von Baha-Uddin. Der Gedanke war verlockend, aber es regte sich auch Widerstand in ihr. Die Hilfe, die sie König Azenor anbieten konnte, würde unter den Angreifern viele Opfer fordern. Hunderte, wenn nicht sogar Tausende der Krieger würden auf ein Wort von ihr ihre Leben lassen. Sie würde sie töten. Alle. Vielleicht auch Unschuldige.
War es das wert?
Noelani biss sich verzagt auf die Unterlippe. König Azenor gehörte nicht zu den Menschen, denen sie sich verbunden fühlte. Auch in seinem Volk schien er wenig beliebt zu sein. Zudem verbot ihr der Ehrenkodex ihres Volkes, um des eigenen Vorteils willen zu töten. Die Menschen von Nintau sahen das Leben von jeher als das höchste Gut an. Es galt als unantastbar, außer wenn es, wie bei der Jagd, dazu diente, das Überleben zu sichern. Deshalb war Jamak so erschrocken. Deshalb zögerte sie noch immer.
Andererseits lag das Überleben ihres Volkes in des Königs Hand. Wenn er den Zurückgebliebenen am Strand nicht schnell Hilfe zukommen ließ, würde nicht einmal ein Bruchteil von ihnen den nächsten Vollmond erleben.
Es war zum Verrücktwerden. Ganz gleich, wie Noelani es auch drehte und wendete, am Ende standen immer Hunderte Tote. Entweder Fremde oder Freunde.
Was sollte sie nur tun?
»Ich rede mit dir, Weib!« Azenors ungeduldige Stimme drang durch die wirbelnden Gedanken bis zu ihr durch. »Antworte!«
Noelani schluckte trocken. Sie musste etwas sagen. Nur was? Das Wohl und Wehe ihres Volkes hing von ihrer Antwort ab. Aber noch hatte sie keine Entscheidung getroffen. Wie auch? Alles ging so schnell, viel zu schnell. Sie musste nachdenken. Sie musste sich mit Kaori beraten und mit Jamak. Sie musste Zeit gewinnen. »Doch«, sagte sie mit bebender Stimme. »Es gibt diesen Zauber, von dem Samui gesprochen hat. Es ist der einzige, den ich zu wirken vermag, und seine Macht ist an die Kristalle gebunden.«
Jamak ächzte und ließ sich schwer gegen die Stuhllehne sinken. Es war unschwer zu erkennen, dass er Noelanis Antwort für falsch hielt.
»Wie mächtig ist dieser Zauber?« Azenor versuchte, seine Aufregung hinter einer Maske aus Gelassenheit zu verbergen, was ihm nicht wirklich gelang.
»Sehr mächtig.«
»Und was bewirkt er?«
»Er verwandelt alles zu Stein, was sich innerhalb eines Rings aus den fünf Kristallen befindet.«
Azenor schüttelte den Kopf. »Das glaube ich dir nicht. Du willst doch nur, dass ich euch helfe«, sagte er ärgerlich. »Aber so einfach lasse ich mich nicht hinters Licht führen. Wenn es diesen Zauber wirklich gibt, musst du es mir beweisen.«
Noelani überlegte kurz, dann nickte sie. In ihrer Ausbildung war sie mit der Maor-Say regelmäßig zum Plateau des Dämons hinaufgestiegen, um den Zauber zu üben. Meist hatten sie Blumen in den Kreis der steinernen Jungfrauen gelegt und versucht, sie mittels Magie in Stein zu verwandeln. Es hatte fast ein Jahr gedauert, bis sie den Zauber richtig beherrschte, aber dann war es ihr immer leichter gefallen, und sie war sicher, dass es ihr auch hier gelingen würde. »Ich zeige es dir.«
Mit wenigen Handgriffen legte sie die Kristalle so auf den Tisch, dass sie einen kleinen Kreis bildeten. Weil sie nichts anderes zur Hand hatte,
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