Kristall der Macht
vertraut zu machen – und nun erlegte ihr das Schicksal eine solch ungeheure Verantwortung auf.
Jamak seufzte erneut. Er beneidete sie nicht um diese Aufgabe. »Dich trifft keine Schuld, und du kannst es beweisen«, fuhr er ruhig fort. »Wer es nicht glauben will, kann sich hier mit eigenen Augen davon überzeugen.«
»Und dann?«
»Werden sie dich fragen, was sie tun sollen.«
»Aber das weiß ich nicht.«
»Das solltest du besser für dich behalten.« Jamak überlegte kurz und fügte hinzu: »Lass dich nicht drängen. Versuche Zeit zu gewinnen. Sei stark. Gib dich zuversichtlich, aber mache ihnen keine Versprechungen, die du nicht halten kannst.«
»Zeit.« Nun war es Noelani, die seufzte. »Ich glaube nicht, dass ein Aufschub mir weiterhilft. Dir muss ich es nicht sagen, du weißt, dass ich mich früher immer auf Kaori verlassen habe. Von klein auf habe ich den Weg in ihrem Schatten gewählt und nie gelernt, eigene Entscheidungen zu treffen oder Verantwortung zu übernehmen. Die Zeit im Tempel war viel zu kurz, um das Versäumte nachzuholen, zumal ich auch dort immer im Schatten der Maor-Say stand und nur langsam gelernt habe, eigenverantwortlich zu handeln. Verstehst du nicht? Ich kann die Überlebenden unmöglich anführen. Ich kann ja noch nicht einmal für mich selbst einstehen.«
»Ich weiß.« Jamak schloss Noelani wieder in die Arme. »Aber ich fürchte, du wirst dich nicht vor der Verantwortung davonstehlen können, die das Schicksal dir auferlegt hat. Die Menschen lieben und achten dich. Du bist diejenige, zu der sie aufschauen. Alles, was ich tun kann, ist, dir meine Hilfe und meinen Rat anzubieten.«
»Ich habe Angst, Jamak.« Noelanis Stimme bebte. »Ich wünschte, Kaori wäre hier. Sie würde wissen, was zu tun ist.«
»Ich bete für dich und dafür, dass sie unter den Überlebenden ist.« Jamak wusste, wie gering die Aussichten waren, dass Kaori dem Giftatem entkommen war, aber er wollte Noelani nicht den Funken Hoffnung nehmen, den die Nachricht von den Überlebenden in ihr Herz getragen hatte. So sagte er nur: »Vielleicht war das Schicksal auch ihr wohlgesonnen.«
»Kaori ist klug, und sie ist stark. Wenn es jemand geschafft hat, dann sie.« Noelanis Augen leuchteten, als sie alle Zuversicht, die sie aufbringen konnte, in ihre Worte legte. »Komm!«, sagte sie und straffte sich. »Lass uns zum Tempel zurückgehen und nach ihr suchen.«
* * *
Noelani!
Beim Anblick der geliebten Schwester spürte Kaori ein leichtes Erbeben, etwas, das sie vor Kurzem vermutlich noch als tiefes Glücksgefühl bezeichnet hätte. Ohne einen eigenen Körper war es sehr viel weniger intensiv, aber es tat wohl, Noelani bei guter Gesundheit zu sehen. Sie erreichte den Platz des versteinerten Dämons in dem Augenblick, als Noelani und Jamak sich an den Abstieg machten.
»Noelani, warte!«
Kaori rief so laut sie konnte und hob die Arme, um sich bemerkbar zu machen, während sie über die Gesteinstrümmer hinweg auf ihre Zwillingsschwester zuglitt – doch vergeblich. Noelani und Jamak bemerkten sie nicht. Kaori bewegte sich schneller, überholte die beiden und versperrte ihnen den Weg, aber auch das hatte nicht den gewünschten Erfolg. Noelani und Jamak gingen einfach durch sie hindurch. Sie sprachen weiter miteinander und bemerkten sie nicht.
»Schwester!« Kaori spürte eine Verzweiflung in sich aufsteigen, die dem Gefühl zu ihren Lebzeiten schon sehr nahe kam.
Was sollte sie tun? Was konnte sie tun?
Sie war allein. Nicht tot und nicht am Leben und, wie es schien, gefangen in einer Welt, die sich irgendwo zwischen dem Reich der Ahnen und der Welt der Lebenden befand. Einsamer konnte eine Seele nicht sein.
Unschlüssig blickte sie Noelani und Jamak nach, bis die beiden hinter einer Biegung verschwanden. Einer plötzlichen Eingebung folgend, setzte sie sich in Bewegung, um ihnen zu folgen, hielt jedoch sogleich wieder inne. Warum sollte ich das tun?, dachte sie betrübt. Sie können mich nicht sehen und nicht hören. Ich gehöre nicht mehr zu ihnen. Ich gehöre nirgendwo hin.
»Das ist das Los der Untoten«, tönte eine unheimliche Stimme, die ein hässliches kehliges Lachen folgen ließ. Kaori zuckte zusammen und wirbelte herum. »Wer ist da?«, fragte sie, das Gefühl eines heftig klopfenden Herzens in der durchscheinenden Brust.
Stille.
»Wer ist da?« Ihr Blick irrte suchend umher.
Wieder nur Stille.
Obwohl die Vernunft ihr sagte, dass es nichts mehr gab, wovor sie sich fürchten
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