Kristall der Macht
lassen.« Sie verstummte und sann darüber nach, was zu tun war. Die Antwort ahnte sie bereits, aber noch war sie nicht bereit, sich diese einzugestehen. »Was soll ich tun?«, fragte sie Kaori mit dünner Stimme, so wie sie es immer getan hatte, wenn es ihr schwergefallen war, eine Entscheidung zu treffen. Doch anders als zu Lebzeiten, schwieg ihre Schwester diesmal.
»Bitte, Kaori, sag es mir. Was soll ich tun? Was soll ich den Überlebenden sagen?«
»Ich muss dir nicht helfen«, hörte sie Kaori sagen. »Du kennst die Antwort bereits. So wie du sie immer gekannt hast. Aber diesmal werde ich es dir nicht abnehmen, die Entscheidung zu treffen. Diesmal wirst du selbst handeln, so wie du es für richtig hältst. Du bist die Maor-Say. Du bist stark und klug, und vor allem bist du nicht auf den Rat eines Geistes angewiesen. Du siehst, was geschehen ist, und kehrst in dem Bewusstsein zurück, dass es immer wieder geschehen kann.
Zunächst aber kehrst du von dieser Geistreise nicht nur mit schlechten Neuigkeiten zurück. Siehst du es? Der Berg beruhigt sich. Es fließt kaum noch Rauch die Hänge hinab. Bald wird der Nebel auch Nintau aus seinen tödlichen Fängen entlassen und euch die Gelegenheit für einen neuen Anfang geben.«
Noelani betrachtete den Berg genauer und erkannte, dass Kaori recht hatte. Zwar war der Fuß des schwarzen Riesen noch von dicken Rauchschwaden verhüllt, aber im Krater selbst war nur noch wenig Rauch zu sehen.
»Wie viel Zeit bleibt uns?«, fragte sie. »Ein Jahr? Hundert Jahre?«
»Wer vermag das zu sagen?«, antwortete Kaori vielsagend.
»Dann müssen wir jeden Tag nutzen, als ob es der letzte wäre.« Noelani spürte eine grimmige Entschlossenheit in sich aufsteigen. Instinktiv spürte sie, dass der Berg ihr Feind war. Ein unbesiegbares Monstrum, das sich anschickte, ihr Volk zu vernichten, und das selbst dann nicht ruhen würde, wenn Nintau zu einem öden Eiland mit vergifteter Erde geworden war. Kein Zauber und keine noch so verlogene Legende würden ihr Volk vor einem weiteren Schicksalsschlag bewahren können. Noelani spürte, wie ihr Herz weit entfernt auf der Insel heftig zu pochen begann, als sie sich der Tragweite ihrer Überlegungen bewusst wurde und erkannte, dass ihrem Volk nur ein Weg blieb, um zu überleben. Sie mussten Nintau verlassen.
»Du weißt, was das bedeutet, nicht wahr?«, wandte Noelani sich an ihre Schwester. »Du weißt, dass wir Nintau verlassen müssen, wenn wir nicht noch einmal von dem tödlichen Nebel überrascht werden wollen.«
»Es ist der einzige Weg.«
»Ein Weg ins Ungewisse.« Noelani seufzte. »Wir haben keine Schiffe, mit denen wir das Meer befahren können. Wir haben kein Ziel. Wir haben nichts. Nur unseren Mut und Verzweiflung.«
»… und die Gewissheit, dass es auf Nintau keine sichere Zukunft geben wird.«
»Ja, die haben wir auch.« Noelani spürte eine große Niedergeschlagenheit in sich aufkeimen. Die Aufgabe, ihr Volk in eine bessere Zukunft zu führen, erschien ihr plötzlich viel zu groß für ihre schmalen Schultern. Ein Abenteuer, das von vornherein zum Scheitern verurteilt war. »Ich … ich kann das nicht allein entscheiden«, sagte sie. »Ich werde zurückkehren und allen berichten, was ich gesehen habe. Dann möge jeder seine Wahl treffen.«
»Das ist ein weiser Entschluss.« Kaori wirkte zufrieden. »Ich bin froh, dass du mir vertraut hast. Weißt du jetzt, warum es mir so wichtig war, dass du den Berg mit eigenen Augen siehst?«
»Ja, das weiß ich.« Noelani lächelte innerlich. »Lass uns zurückkehren«, schlug sie vor. »Ich habe genug gesehen.«
Kaum hatte sie das gesagt, spürte sie wieder die eisige Berührung ihrer Schwester. Augenblicklich wurde sie zurückgerissen. Fort von dem Berg, über das nebelverhangene Meer, hin zu dem einen Ort, an dem ihr Körper auf die Rückkehr der Seele wartete.
Als die Insel in der Ferne auftauchte, wurde Noelani von einer tiefen Sehnsucht erfasst. Niemals zuvor hatte sie eine so lange Geistreise unternommen, niemals ihren Körper so weit zurückgelassen. Sie sehnte sich nach dem Leben und der Wärme des Seins, aber kurz bevor es so weit war, dass sie in ihren Körper zurückkehrte, hielt sie noch einmal inne.
»Sehe ich dich wieder?«, fragte sie Kaori in banger Hoffnung.
»Ich werde hier sein, solange du lebst«, erwiderte Kaori. »Diese Welt verbindet Leben und Tod. In der Sphäre der Geister verschwimmen die Grenzen des Seins. Hier wirst du mich finden, wann immer du
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