Kristall der Macht
deren Stimme sie hörte. Trotzdem stellte sie noch eine letzte Frage: »Was hast du zum Abschied zu mir gesagt, als ich zum Tempel gehen musste?«
Dass wir nie wirklich getrennt sein werden, weil uns eine gemeinsame Seele innewohnt, die uns auch über den Tod hinaus miteinander verbindet. Ganz gleich, was auch passiert, habe ich dir geschworen, ich werde bei dir sein – und genau so ist es.
»Kaori, du … du bist es wirklich.« Noelani schluchzte auf und schob alle Zweifel von sich. Sie hatte genug gehört. Sie wollte glauben, dass Kaori bei ihr war, wollte in ihrer Nähe sein. Dass sie ihre Schwester nicht sehen und nicht berühren konnte, war ihr gleich, solange sie nur wusste, dass Kaori nicht fort war, dass etwas von ihr bei ihr geblieben war – dass sie nicht allein war.
Ja, Nanala. Ich bin es. Vertraust du mir jetzt?
»Ja … ja, ich vertraue dir.« Noelani sagte es aus ganzem Herzen.
* * *
»Ja, ich vertraue dir.«
Kaori atmete auf. Sie hatte befürchtet, dass Noelani ihr nicht glauben und sich von ihr abwenden würde. Nun war sie froh, dass es ihr gelungen war, die Zweifel und Ängste ihrer Zwillingsschwester zu zerstreuen. Überglücklich sandte sie Noelani einen liebevollen Gedanken und bemerkte, wie die Aura ihrer Schwester an Farbe gewann. »Wenn ich könnte, würde ich dich umarmen – so wie früher«, hörte sie Noelani mit einem Anflug von Wehmut sagen. »Ich war so traurig und verzweifelt, weil du dem Nebel nicht entkommen bist, aber jetzt weiß ich, dass ich dich nicht ganz verloren habe, und das macht den Schmerz erträglich.« Sie verstummte kurz und fügte dann hinzu: »Trotzdem wünschte ich, du wärst bei mir. Richtig. So wie früher. Ich … ich brauche dich so. Die Flüchtlinge vertrauen mir und erwarten, dass ich sie führe, aber das kann ich nicht. Ich weiß doch auch nicht mehr als sie. Wie soll ich ihnen da sagen, was wir tun müssen?
Ich habe immer gewusst, dass du die bessere Maor-Say geworden wärst. Du bist stark. Ich war die Schwächere von uns beiden. Die Götter wissen, warum die Maor-Say damals mich erwählt hat. Eine Zeit lang dachte ich tatsächlich, ich könnte es lernen. Ich dachte, ich könnte eine gute Maor-Say werden, aber so …? Ich wünschte, es wäre anders gekommen. Ich wünschte, ich …«
»Noelani, beruhige dich«, unterbrach Kaori sanft den Gedankenfluss ihrer Schwester. »Du irrst dich, du bist nicht schwach. Du bist stark. So wie ich. In dir steckt viel mehr, als du wahrhaben willst. Es war nur so angenehm für dich, mich all die Jahre vorzuschieben. Aber auch ich bin nicht ganz unschuldig daran, dass alles so gekommen ist. Ich habe es dir leicht gemacht, denn ich habe gern die Führungsrolle für uns beide übernommen. Ich bin sicher, die alte Maor-Say hat das gewusst. Sie hat gespürt, dass du die Richtige bist. Sie wird ihre Gründe dafür gehabt haben, dich zu erwählen. Daran darfst du niemals zweifeln.«
»Aber ich weiß nicht, was wir tun sollen.« Noelanis Aura flackerte. Mehr noch als zuvor wirkte sie schwach und verletzlich. »Ich vermute, dass die Legende von dem Dämon eine Lüge ist, aber solange ich nicht weiß, woher der tödliche Nebel wirklich stammt, kann ich nichts …«
»Ich weiß es.«
»Du?«
»Ja. Und ich werde es dir zeigen.«
»Aber wie …? Woher …?«
»Das ist nicht wichtig. Wichtig ist, dass du es mit eigenen Augen siehst.«
»Ist es weit weg?«
»Ja.«
»Weiter als ich …?« Noelani ließ den Satz unvollendet, aber Kaori wusste, worauf sie hinauswollte.
»Ja.«
»Aber dann …«
»Keine Sorge, dir wird nichts geschehen«, versicherte Kaori. »Ich bin bei dir. Ich werde dich begleiten. Selbst wenn die Geistverbindung reißt, wird dir nichts geschehen, denn diesmal bist du nicht allein. Ich werde dich sicher zurückführen.«
Noelani sagte nichts. Kaori spürte, wie sie mit sich rang. »Es ist wichtig«, sagte sie mit sanftem Nachdruck. »Für dich und für unser Volk.«
»Aber ich habe Angst.« Noelani schien etwas zu überlegen und fragte dann: »Warum sagst du es mir nicht einfach? Du kennst die Ursache doch. Du hast sie doch schon geseh…«
»Willst du mich schon wieder vorschieben, Noelani?«, fragte Kaori tadelnd. »So wie früher? Kaori hat …, Kaori sagt …, Kaori findet, dass …? Nein. Das ist vorbei. Du wirst es dir selbst ansehen und eine eigene Entscheidung treffen. Es mag sein, dass es dieselbe ist, die ich auch getroffen hätte, aber das ist ohne Belang, denn es wird
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