Kristall der Macht
»Kaori, hörst du mich?«, fragte sie noch einmal und es klang wie ein Flehen.
Ich höre dich.
Drei Worte, die Noelani das Gleichgewicht rauben wollten. Wieder drohte die Geistreise ein jähes Ende zu nehmen, und wieder gelang es ihr, ihre überbordenden Gefühle unter Kontrolle zu bringen, auch wenn es diesmal ein heißer Freudentaumel war, der ihr die Sinne raubte.
»Kaori, Schwester! Wo … wo bist du?« Noelanis Stimme bebte, als sie die Worte lautlos in die Sphäre wob. Zu groß war der Schmerz über den Verlust der geliebten Zwillingsschwester, zu tief und frisch die Wunden, die er gerissen hatte, und zu schmerzhaft die Hoffnung, die sie längst verloren geglaubt hatte und die nun mit Macht zu ihr zurückkehrte.
Ich bin hier, Schwester. Vor dir. Nur ein paar Schritte entfernt.
»Aber ich sehe dich nicht.«
Ich sehe dich, das muss genügen. Zu viel trennt uns, das nicht überwunden werden kann.
»Du … du bist nicht tot, oder?« Verzweiflung schwang in Noelanis Worten mit.
Doch, das bin ich. Ich starb im Nebel, so wie alle anderen. Für mich gibt es kein Zurück, raunte die Stimme aus dem Nichts. Sie klang seltsam. Weiblich, ja, aber verzerrt und bei Weitem nicht so, wie Noelani die Stimme ihrer Schwester in Erinnerung hatte. Zweifel machten sich in ihr breit, und sie spürte, wie die Hoffnung schwand. Die Vernunft mahnte sie, sofort kehrtzumachen und das, was immer da zu ihr sprach, zurückzulassen, aber noch war die Sehnsucht zu groß und die Hoffnung nicht ganz erloschen.
»Wenn du wie alle anderen gestorben bist, warum sind sie dann nicht hier, so wie du?«, fragte Noelani misstrauisch.
Weil sie ins Licht gegangen sind.
»Und du?«
Für mich ist die Zeit noch nicht gekommen, erwiderte die Stimme. Bitte, Noelani, du musst mir glauben. Ich habe schon so oft versucht, zu dir zu sprechen. Als du mit Jamak oben bei dem Dämonenfels warst, nachdem du die steinernen Jungfrauen zerstört hast und auch vorhin, als du die Geistreise beginnen wolltest. Aber in der Welt der Lebenden konnte ich dich nicht erreichen. Ich musste hier auf dich warten, und ich bin überglücklich, dass du mich hören kannst, denn es gibt Dinge, die du wissen musst.
… vorhin, als du die Geistreise beginnen wolltest. Noelani dachte an das Gefühl der Kälte auf der Wange und die Ahnung, nicht allein zu sein. War es Kaori gewesen, deren Nähe sie gespürt hatte? War sie es wirklich, die hier zu ihr sprach?
Noelani zögerte. Sie wollte so gern glauben, dass es so war, blieb aber vorsichtig. Es war das erste Mal, dass sie in der Sphäre der Seelen jemandem begegnete. Sie hatte davon gehört, dass so etwas geschehen konnte, aber sie hätte niemals für möglich gehalten, dass ausgerechnet ihr es widerfuhr. Die Stimme machte ihr Angst. Sie klang fremd, und es fehlte das Gefühl der Vertrautheit, das sie sonst immer empfunden hatte, wenn sie in Kaoris Nähe war. Dennoch war da etwas, das sie davon abhielt, die Flucht zu ergreifen.
»Bist … du es wirklich?«, fragte sie mit dünner Stimme.
Ja, Nanala.
Nanala! Beim Klang des Kosewortes aus Kindertagen wurde Noelani warm ums Herz. Niemand außer Kaori konnte wissen, dass sie den Namen einmal getragen hatte. Nanala war der Name einer wunderschönen Meeresprinzessin aus einem alten Märchen. Man sagte ihr nach, dass sie in einem Schloss in der Tiefe des Ozeans wohnte und in Vollmondnächten auf dem Riff sehnsuchtsvolle Lieder für ihren Liebsten sang, der ihr hatte folgen wollen und jämmerlich ertrunken war.
Noelani hatte als junges Mädchen immer davon geträumt, Nanala einmal zu sehen. Eine Zeit lang war sie deshalb in Vollmondnächten heimlich zum Riff geschlichen, um nach der Meeresprinzessin Ausschau zu halten. Kaori war das nicht entgangen, und so hatte sie Noelani manchmal liebevoll neckend Nanala genannt.
Noelani seufzte. Mehr denn je wünschte sie sich, dass ihre Schwester tatsächlich bei ihr war. Und dennoch … Traue der Stimme nicht, flüsterte die Vernunft ihr zu . Es kann eine Falle sein.
Noelani überlegte fieberhaft. »Wovor habe ich mich als Kind in der Nacht am meisten gefürchtet?«, fragte sie schließlich.
Vor den Nachtschwebern.
Das stimmte. Einen besonderen Grund dafür hatte es nie gegeben, aber Noelani erinnerte sich noch gut daran, dass sie erst dann einschlafen konnte, wenn ihre Mutter auch den letzten kleinen Falter aus dem Zimmer gejagt hatte. Noelani spürte, wie ihr vor Glück die Kehle eng wurde, als sie begriff, dass es wirklich Kaori war,
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