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Kristall der Macht

Kristall der Macht

Titel: Kristall der Macht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Felten
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riesigen schlammigen Gelände erstreckte sich ein Ring aus armseligen Behausungen, die oft nicht mehr waren als aus Tüchern errichtete Zelte, die von langen Stöcken gestützt wurden. Von diesen primitiven Zelten aber standen kaum mehr als eine Handvoll. Riesige Pfützen, zerstörte Unterstände und gerissene Stoffbahnen, eine Flut von Unrat und unzähligen Menschen, die inmitten all der Verwüstung planlos umherirrten, zeugten davon, dass der Sturm, den die Flüchtlinge auf dem Meer erlebt hatten, auch hier gewütet haben musste. Der Anblick von Not und Elend verlieh den Worten des Kapitäns ein Gesicht, denn er machte deutlich, warum so viele aus diesem Land über das Meer zu fliehen versuchten.
    Wie es dazu gekommen war, dass sich die Menschen an diesem einen Ort versammelten, wusste Kaori nicht, aber sie war fest entschlossen, es herauszubekommen.
    Nachdem sie sich einen ersten Überblick verschafft hatte, glitt sie tiefer und mischte sich unter das Volk. Unbemerkt streifte sie durch das Flüchtlingslager und lauschte auf das, was die Menschen sich dort erzählten. Alle waren verzweifelt, die meisten litten Hunger und Durst, viele trauerten um Angehörige, die an Krankheiten oder Verletzungen verstorben waren. Es gab Kinder, die bettelnd umherirrten, mager und mit großen Augen, in denen die Hoffnungslosigkeit zu lesen stand wie in einem offenen Buch.
    Viele Männer waren verstümmelt. Sie alle schienen Opfer eines Krieges zu sein, der, wie Kaori hörte, irgendwo gefochten wurde und immer wieder als Grund für Not und Elend genannt wurde. Einige Menschen weinten und flehten die Götter um Hilfe an, andere erklärten zornig, die Götter hätten sie längst verlassen.
    Die Not der Menschen in dem vom Sturm zerstörten Lager war so ungeheuerlich, dass Kaori das Schicksal ihres Volkes im Nachhinein mit etwas anderen Augen sah. Auch die Bewohner von Nintau hatten unermessliches Leid erfahren. Viele waren gestorben, die Natur und mit ihr die Nahrung waren zu einem Großteil vernichtet worden. Und auch der Sturm hatte noch einmal viele Opfer gefordert. Ein Siechtum in Not und Elend aber, wie es diesen Menschen tagaus, tagein widerfuhr, war den Überlebenden von Nintau erspart geblieben – bis jetzt.
    Kaori wagte nicht daran zu denken, was geschehen würde, wenn die Flüchtlinge die Hauptstadt erreichten. Ein Land, das für sein eigenes Volk nicht mehr tun konnte, als es in diesem jämmerlichen Zustand vor sich hin siechen zu lassen, würde für einhundertdreißig zusätzliche hungrige Mäuler kaum einen Finger rühren. Wenn Noelani nicht klug und besonnen handelte, würden sich die Letzten ihres Volkes schon bald unter diesen Menschen wiederfinden, die wie sie alles verloren hatten und sich an die verzweifelte Hoffnung klammerten, dass der Krieg bald ein glückliches Ende nehmen würde, damit sie in ihre Heimat zurückkehren konnten.
    Aus den Gesprächen glaubte Kaori herauszuhören, dass eine entscheidende Schlacht unmittelbar bevorstand. Wann und wo diese stattfinden würde, darüber schien niemand etwas zu wissen. Um mehr darüber herauszufinden, musste sie sich woanders umsehen, dort, wo das Herz des Landes schlug, in der Mitte der Stadt, wo der Palast alle anderen Bauten überragte.
    Sie ließ das Lager, die Verwüstungen und die Menschen mit ihren zerstörten Träumen hinter sich und schwebte zu den roten Ziegeldächern des Palastes, die wie stumme Zeugen einer besseren Zeit über der Stadtmauer aufragten. Unbemerkt glitt sie über den Platz vor dem Eingang auf das große Doppelflügeltor zu, das die Besucher des Palastes wie ein finsteres Maul verschlang oder ausspie.
    Es war das erste Mal, dass sie ein Gebäude betrat, das größer war als die Hütten und der Tempel auf Nintau. Das Gefühl war unbeschreiblich, und die Eindrücke, die im Innern auf sie einstürmten, waren so überwältigend, dass sie für eine Weile ganz vergaß, warum sie hierhergekommen war. Schon in der Eingangshalle gab es so viel zu entdecken, dass sie gar nicht wusste, wo sie zuerst hinsehen sollte. Da waren breite Treppen, die sich wie die Schnecke im Innern einer Muschel nach oben wanden, und kunstvolle Teppiche, bunt und so dicht geknüpft, dass kein Laut zu hören war, wenn jemand darüber ging. Die gewölbte Decke war so hoch, dass nicht einmal ein Riese sie hätte berühren können. Dennoch war sie mit farbenprächtigen Bildern von Schiffen, Jagdszenen und Festlichkeiten geschmückt. An den Wänden hingen bunt gewebte Teppiche, die

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