Kristall der Macht
mal ein wenig umsah.
8
Das Schiff hatte nur sanft geschaukelt.
Eine angenehme Nacht war es dennoch nicht gewesen. Die Holzplanken des Bodens waren hart, und es gab nichts, worauf Noelani ihren Kopf hätte betten können. Auch war die Luft im Laderaum verbraucht und stickig. Es roch nach Schweiß, feuchtem Gewebe und den Ausdünstungen zu vieler Menschen auf zu engem Raum. Am liebsten wäre sie an Deck gegangen, aber es war zu kalt, um die Stunden der Dunkelheit dort zu verbringen. So war sie unten geblieben, bei den anderen, die sie mieden und die sie, wie sie mehrfach zu erkennen glaubte, mit finsteren und hasserfüllten Blicken aus den Schatten heraus musterten.
Die Blicke hatten ihr Angst gemacht. Wie groß mochte der Hass sein, den die Überlebenden ihr gegenüber empfanden? Groß genug, sie für ihre Fehler zur Rechenschaft zu ziehen? Groß genug, um sich an ihr für das Erlittene zu rächen? Groß genug, um sie zu töten?
Der Gedanke, dass der eine oder andere vielleicht noch ein Messer besaß und im Stillen darüber nachsann, sie im Schlaf hinterrücks zu meucheln, hatte sie keine Ruhe finden lassen. Dass Jamak nicht von ihrer Seite wich und sich neben ihr schlafen gelegt hatte, war eine rührende Geste, beruhigte sie aber nicht wirklich, denn wenn Jamak schlief, tat er dies meist tief und fest. Vermutlich würde er einen Angriff auf sie gar nicht bemerken. Und selbst wenn, was konnte er allein gegen zwei, drei oder vier Männer ausrichten, die schlimmstenfalls bewaffnet waren und entschlossen, ihr ein Leid anzutun? Wie es aussah, gab es außer Jamak niemanden in diesem Laderaum, der auch nur einen Finger krümmen würde, um ihr beizustehen.
Diese und ähnliche Gedanken waren ihr während der Nacht durch den Kopf gegangen, in den endlosen Stunden, die sie wach gelegen und in Erwartung einer verdächtigen Bewegung ins Halbdunkel gestarrt hatte. Obwohl sie es verstehen konnte, war es schmerzhaft für sie zu erleben, dass keiner der mehr als hundertdreißig Geretteten auch nur einmal das Wort an sie gerichtet hatte.
Noch schlimmer als die stumme Missachtung aber war die offenkundige Ablehnung, mit der man sie gestraft hatte, wenn sie selbst das Wort an den einen oder anderen gerichtet hatte. Ganz gleich, ob Trost oder Zuspruch, alle hatten ihr den Rücken zugekehrt, und das auf eine Weise, die nur eines bedeuten konnte: »Du bist schuld an unserem Elend!«
Seltsamerweise war es genau diese Ablehnung, die in Noelani den Wunsch nährte, den letzten Überlebenden ihres Volkes zu beweisen, dass all die furchtbaren Opfer nicht vergebens waren. Dass es für sie doch noch das erhoffte gute Ende geben würde, auch wenn die schmerzlichen Erinnerungen noch lange ihre Schatten auf den Neubeginn werfen würden. In dieser Nacht schwor sie sich, dass sie die Überlebenden für all das entschädigen würde, was sie hatten erdulden müssen, in der Hoffnung, dass sie oder ihre Nachfahren eines Tages ohne Groll sagen konnten: »Es ist richtig gewesen, Nintau zu verlassen.«
Der Schwur war nicht neu, sie hatte Ähnliches schon einmal geschworen, damals, als sie sich entschlossen hatte, eine neue Bleibe für ihr Volk zu suchen. Diesmal aber war er stärker und mächtiger. Und anders als zuvor war sie geradezu davon besessen, den Schwur auch wirklich einzulösen. Zweimal schon hatte sie denen, die ihr vertrauten, Unglück gebracht. Ein drittes Mal würde das nicht geschehen. Dafür würde sie tun, was immer in ihrer Macht stand. -Dafür würde sie alles tun.
Ihre ganze Hoffnung ruhte auf den fünf Kristallen, die sie in einem fest verschlossenen Lederbeutel unter ihrem Gewand verborgen bei sich trug. Wie durch ein Wunder hatten sie den Sturm unbeschadet überstanden.
Ein Zeichen …?
Und selbst wenn nicht: Die fünf Kristalle waren das einzige von Wert, was ihr Volk jetzt noch besaß und Noelani war entschlossen, diesen Wert zum Wohl ihres Volkes zu verwenden. Gewiss würden fünf Edelsteine ausreichen, um für alle, mit denen sie den Lagerraum teilte, Land, Nahrung, Kleidung und die nötigsten Werkzeuge zu kaufen und somit den Grundstein für eine bessere Zukunft zu legen.
Verstohlen tastete Noelani nach dem vom Salzwasser gehärteten Lederbeutel. Niemand außer ihr wusste, welchen Schatz sie bei sich trug, aber obwohl die abweisenden und hasserfüllten Blicke der anderen sie schmerzten und ängstigten, wollte sie ihnen dieses letzte Geheimnis nicht vor der Zeit preisgeben. Diesmal würde sie ganz sichergehen. Diesmal
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