Kristall der Träume
von Glauben erfüllt, dass sie nicht nur zu ihrem Erlöser betete, sondern auch zu der Heiligen Mutter Juno. Sie flehte um ein Zeichen. Was soll ich tun?
Sie lauschte in die Dunkelheit, aber alles, was sie hörte, war die beklemmende Stille der massiven Wände und die entfernten Rufe anderer Gefangener, die um Freilassung, Essen und Wasser bettelten.
Sie hörte den Schlag ihres Herzens und die geraunten Ängste ihres Gewissens. Erneut suchte sie Zuflucht im Gebet. Vollkommen erschöpft zog sie schließlich die Halskette unter ihrer Tunika hervor und blickte in das Herz des blauen Kristalls, dessen Einschluss aus kosmischem Staub die Gestalt des Erlösers hatte. Und da fand sie die Antwort.
Der Stein hatte ihr einst den Glauben zurückgegeben, jetzt bestärkte er sie noch darin. Sie wusste, was sie zu tun hatte. Mit zitternden Händen nestelte sie den Stein aus seiner Goldfassung, und als sie ihn in das dämmerige Licht hielt, wurde sie von seiner Schönheit überwältigt. Solange der Stein in seiner Fassung lag, hatte sie seine unglaubliche Reinheit und die Klarheit der in seinem Inneren eingeschlossenen Christusfigur nicht zu schätzen gewusst.
Seltsam, dass sie diesen Stein einmal für verflucht gehalten und sich vor dem darin gefangenen Geist gefürchtet hatte. Aber genau das war ja Cornelius’ Absicht gewesen. Dann dachte sie an die bevorstehende Pein, an die Qualen und den Todeskampf in der Arena. Sie wusste, dass sie einer Folter nicht standhalten und die Namen der Freunde verraten würde. Ihr Wille war stark, aber ihr Fleisch würde schwach sein. Vielleicht war ihr Wille aber jetzt stark genug, bevor die Folter begann. Ihre Gedanken wanderten zu dem Tag vor sieben Jahren zurück, da Cornelius über Leben oder Tod zu entscheiden hatte und den Tod wählte. Nun stand sie vor der gleichen Wahl. Und sie entschied sich für das Leben: das ewige Leben.
Eine merkwürdige innere Ruhe überkam sie, und alle Geheimnisse erklärten sich. Als Jesus vom Ende der Welt sprach, dachte sie bei sich, hatte er damit nicht gemeint, dass alle Menschen das Ende gemeinsam erfahren würden, sondern ein jeder zu seiner Zeit. Für mich kommt heute Nacht das Ende der Welt.
Sie hielt den Atem an und lauschte. Am Ende des Ganges ertönten Stimmen. Sie musste rasch handeln, bevor man sie holte. Es war nicht einfach, den Stein zu schlucken. Sobald sie ihn auf ihrer Zunge spürte, wurde ihr übel. Dann dachte sie an das Leben, das noch vor ihr lag, an die schöne Villa und ihren Gatten, der sie liebevoll verwöhnen, der von neuem beginnen wollte. Doch all das wurde überlagert von dem Gedanken an den Gekreuzigten, der seinen Peinigern vergeben und sie, Amelia, durch die Taufe angenommen hatte.
Sie schob sich den Stein tiefer in den Mund und konnte ihn immer noch nicht schlucken. Sie befürchtete, dass sie den Stein wieder ausspucken oder ohnmächtig würde und die Wachen den Stein entfernen könnten, bevor er sein Werk vollendet hatte. Unter Würgen drückte sie sich den Stein tiefer in den Schlund, während sie im Geiste betete: »Gott, vergib mir, dass ich mir das Leben nehme, aber ich bin nur aus schwachem Fleisch. Ich kann es nicht zulassen, dass meine geliebten Freunde mit mir in der Arena den Tod finden, auch wenn es ein Märtyrertod ist.« Aber dann bäumte sich ihr Lebenswille noch einmal auf, und Panik durchfuhr sie. Sie griff sich an die Kehle. Keuchend rang sie nach Luft. Ein stechender Schmerz bohrte sich in ihre Brust, und in ihren Ohren hämmerte es. Sie stürzte zu Boden. Ihr Lungen drohten zu bersten. Gnädiger Gott, mach dieser Qual ein Ende! Als das Leben langsam aus ihrem Körper wich, überkam sie ein wunderbarer Friede. Und der geheimnisvolle Stein, so makellos und schön, der vor vielen Jahrtausenden ein Mädchen mit Namen »Die Große« geführt hatte, einer jungen Frau namens Laliari die Furcht vor den Toten genommen und einst einem jungen Mann mit Namen Avram seinen Platz in der Welt gezeigt hatte, dieses Fragment aus dem Kosmos, steckte jetzt im Hals einer überaus gläubigen Frau. Als die Dunkelheit sie umfing, machte sie sich bereit für den Tod und das Wiedersehen mit Rahel, mit den geliebten Freunden und mit ihrem verstoßenen Kind. Und so fügte es sich, dass ausgerechnet der Schmuckstein, mit dem ihr Gatte sie hatte bestrafen wollen, ihr den Weg zur Erlösung wies.
Interim
Die Wachen rätselten darüber, wie Amelia gestorben war, als sie ihr blau angelaufenes Gesicht und die heraushängende Zunge
Weitere Kostenlose Bücher