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Kristall der Träume

Kristall der Träume

Titel: Kristall der Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
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hatte erneut den Traum gehabt –
    nun, einen Traum konnte sie es nicht direkt nennen, eher eine Tagträumerei, wenn nicht sogar eine Vision. Das Traumbild war ihr erschienen, als sie zur heiligen Amelia gebetet hatte. In der Vision sah sie das, was sie bereits zahllose Male zuvor erblickt hatte: das Leben der Heiligen, von ihrer frühesten Jugend bis zum Übertritt zum Christentum, von ihrer Festnahme durch römische Soldaten bis zu ihrem Märtyrertod durch Kaiser Nero. Winifred hatte keinerlei Vorstellung, wie römische Soldaten und ein römischer Kaiser aussahen, geschweige denn, wie die Menschen sich vor tausend Jahren kleideten und wie sie lebten – und natürlich wusste auch niemand, wie Amelia ausgesehen hatte; jahrhundertelang hatte keiner einen Blick auf ihre sterblichen Überreste geworfen. Dennoch war Winifred der festen Überzeugung, dass es seine Richtigkeit mit der Vision hatte, war sie doch von Gott gekommen.
    Das Problem lag darin, den Abt zu überzeugen. Das Altarbild war eine Streitfrage, die schon so lange zwischen ihnen geschwelt hatte, dass Winifred es sich gar nicht mehr anders vorstellen konnte.
    Das Ganze verlief stets nach demselben Schema: Winifred bat um Erlaubnis, an etwas Aufwändigerem zu arbeiten als an einem Manuskript, und der Abt (der gegenwärtige wie auch seine Vorgänger) setzte dem regelmäßig entgegen, dass ihr Anliegen ungehörig sei und im Übrigen an Sünden wie Stolz und Ehrgeiz grenze. Auch wenn Winifred jedes Mal nachgab – schließlich hatte sie ihr Gehorsamkeitsgelübde abgelegt –, dachte sie insgeheim rebellisch: Männer malen großartige Gemälde, doch Frauen sind nur gut genug für Großbuchstaben.
    Genau das war es nämlich, was Oberin Winifred und die Schwestern des Klosters St. Amelia machten: Sie malten Großbuchstaben, auch Illuminierungen genannt, die in ganz England bekannt und berühmt waren. Das Ganze hatte nur einen Haken: Winifred selbst wollte keine Illuminierungen malen, das war allein der Wunsch des Abtes.
    Seufzend gemahnte sie sich daran, dass es im Leben einer Nonne nicht um Wünsche, sondern um Gehorsam ging. Sie schob die Hände in die bauschigen Ärmel ihres Habits und wollte sich gerade vom Fenster abwenden, durch das ihre Gedanken zu den Regenbogenfarben des Frühlings gewandert waren, als sie Andrew sah, den betagten Hausmeister der Priorei, der aufgeregt durch den Garten eilte. Als Oberin Winifred die Besorgnis auf seinem Gesicht sah, lehnte sie sich aus dem Fenster (die Fenster des Klosters hatten kein Glas, da sich die Nonnen derartige Ausgaben nicht leisten konnten).
    Mit ehrerbietiger Verbeugung bat Andrew die Priorin für die Unterbrechung um Entschuldigung und erklärte, dass er Pater Edman auf dem Weg Richtung Kloster hatte kommen sehen, während er Äste für Feuerholz von einem alten Baum abgehackt hatte. »Wird wohl knapp eine Viertelstunde dauern, bevor er hier auftaucht.«
    Winifred war beunruhigt. Was bedeutete sein Besuch heute? Der Abt kam nur einmal im Monat nach St. Amelia, um Beichten abzunehmen und Manuskripte abzuholen. Früher hatte er auch meist die Messe gelesen, doch nun war er zu beschäftigt und zu bedeutend, um sich um eine Hand voll ältlicher Nonnen zu kümmern. Diese lästige Aufgabe fiel jetzt unbedeutenderen Priestern zu. »Ich glaube, das bedeutet schlechte Nachrichten, Mutter Oberin.« Winifred kniff die Lippen zusammen. Sie konnte sich nicht entsinnen, dass der Abt guter Nachrichten wegen je seine Pläne geändert hätte. Dennoch gab es keinen Grund, die anderen zu beunruhigen. »Vielleicht kommt er ja, um uns mitzuteilen, dass dieses Jahr endlich unser Dach repariert wird.«
    »Das wären tatsächlich gute Nachrichten.«
    »Wir behalten das aber erst einmal für uns.« Sie dankte dem Mann, bat ihn, ihr Bescheid zu geben, wenn Pater Edman an der Klosterpforte stand, und zog sich vom Fenster zurück. Leise ging sie zwischen den Reihen der Nonnen entlang, die an diesem wunderbaren Frühlingsmorgen im elften Jahrhundert des Herrn bereits an der Arbeit waren.
    Das Skriptorium des Klosters befand sich in einem großen Raum mit einem langen Tisch in der Mitte und Pulten entlang der Wände, an denen die Schwestern von St. Amelia über ihrer mühsamen, doch kunstvollen Arbeit saßen. Da selten bei künstlichem Licht gearbeitet wurde, ließ man die Fensterläden offen, sodass die Morgensonne den Raum durchfluten konnte. Winifred hatte einmal das Skriptorium in der Portminster Abtei besucht. Dort waren die

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