Kristall der Träume
Licht herein, und allmählich gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit. In der Zelle roch es nach Moder und Urin. In den Ecken lagen verschimmelte Strohhaufen, an den Wänden hingen Ketten.
Amelia sah Blutflecken auf dem Boden, von fern hörte sie Schreie von anderen Gefangenen. Sie unterdrückte ihre Angst und versuchte klar zu denken. Es handelte sich bestimmt um ein Versehen! Aber…
die Wachen hatten genau gewusst, wo sie sie auf dem Marktplatz finden würden; sie hatten sie erkannt und mit ihrem Namen angesprochen. Jemand musste ihnen einen Hinweis gegeben haben.
Aber wer? Und warum?
Von einer schrecklichen Vorahnung erfüllt – würde man sie hier in alle Ewigkeit einsperren? –, ließ sie sich auf dem Steinboden nieder und umschlang ihre Knie. Dunkelheit umgab sie. Als sie etwas an ihrem Fuß spürte, schrie sie auf. Ihre Familie würde sie bestimmt vermissen und Nachforschungen anstellen. Und doch hatte sie von Leuten gehört, die für immer in diesem Gefängnis eingesperrt waren und vergessen… Sie faltete die Hände und begann zu beten.
Cornelius Vitellius kam in seiner mit breiten Purpurstreifen verbrämten Toga zum Gefängnis. Diese Toga war nur wenigen Privilegierten vorbehalten, und er hatte sie mit Absicht gewählt, um seinem Aussehen noch mehr Autorität zu verleihen.
»Ist sie hier?«, fragte er den Dienst habenden Wachoffizier. »Seit der ersten Wache, Herr«, erwiderte der und grüßte Cornelius mit der Art knappem Salut, den Berufssoldaten Bürgern von Rang offerierten. »Das sind zehn Stunden.«
»Zu essen oder zu trinken?«
»Keinen Tropfen oder Bissen, wie Ihr befohlen habt. Aber wir haben ihr einen Eimer zum Pinkeln reingestellt. Wie lange sollen wir sie dabehalten?«
»Ich lass es dich wissen. Bis dahin, kein Wort zu ihr.« Der Wachoffizier hatte im Lauf der Jahre gelernt, dass Schweigen Gold bedeutete. Der berühmte Advokat – der Offizier hatte selbst schon so manches von Cornelius Vitellius spendierte Bier getrunken – war nicht der Erste, der einen missliebigen Angehörigen wegen unschicklichen Verhaltens unter Arrest stellte. Der Wachoffizier nickte und nahm sein Würfelspiel wieder auf. Cornelius folgte dem Wärter durch den stinkenden Gang. Vor Amelias Tür machte er Halt, um sich zu sammeln, wie er das oft vor einer Gerichtsverhandlung tat. Dann gab er dem Wärter ein Zeichen. »Du meine Güte, Amelia!
«, sagte er, als die Tür hinter ihm zuschlug. »Cornelius!« Sie flog in seine Arme.
»Ich konnte es gar nicht glauben, als man mir sagte, du wärst eingesperrt!«
»Warum bin ich hier? Bin ich unter Arrest? Keiner sagt etwas.«
»Beruhige dich, Amelia. Es sieht so aus, als habe dich jemand als Christin bezeichnet.«
Sie schaute ihn ungläubig an. »Aber Cornelius, dass ich Christin bin, ist kein Geheimnis. Und es ist auch kein Verbrechen.«
»Ich fürchte, Nero übt immer noch Rache gegen die Christen, aber er tut es heimlich, um seinem öffentlichen Ansehen nicht zu schaden.« Als er sah, wie ihr die Farbe aus dem Gesicht wich, wusste er, dass sie ihm glaubte, und fuhr fort: »Nero hat mir gestattet, mit dir zu reden, bevor das eigentliche Verhör beginnt.«
»Du meinst… Folter?«, stammelte sie.
»Schwöre diesem neuen Glauben ab, Amelia. Nenne mir die Namen der anderen, und du wirst frei sein.«
»Und wenn ich es nicht tue?«
»Dann liegt es nicht mehr in meiner Macht.« Er spreizte bedeutungsvoll die Hände.
Sie dachte an all die Leute, die ihr lieb und teuer waren – Gaspar und Japheth, Chloe, Phoebe… und begann zu zittern. Würde sie einer Folter standhalten können und die Namen verschweigen? »Wie weit…«, setzte sie an. »Wie weit wird Nero gehen?« Cornelius zuckte die Achseln, wie er das gern bei Gerichtsverfahren zu tun pflegte. Eine Geste, die mehr besagte als Worte. »Cornelius, hilf mir!
Ich will leben! Ich will unsere Enkelkinder heranwachsen sehen. Ich will dabei sein, wenn Gaius die Toga der Mannbarkeit erhält.« Das Leben war ihr noch nie süßer vorgekommen. Und noch nie war sie so verzweifelt gewesen. »Bitte, Cornelius! Ich flehe dich im Namen deiner Kinder an. Hilf mir! « Er fasste sie an den Schultern. »Ich möchte ja, Amelia. Ich schwöre bei den Göttern, auch nach allem, was zwischen uns vorgefallen ist, wünsche ich dir nicht so ein Schicksal. Aber Nero ist fest entschlossen. Sag ihnen, was sie wissen wollen, und du wirst das Gefängnis noch heute mit mir verlassen.«
In ihrem Blick lag blankes Entsetzen. »Ich…
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