Kristall der Träume
sahen. Der herbeigerufene Arzt erklärte, sie sähe so aus, als ob sie einen Herzanfall erlitten hätte. Die Angst vor dem Tod in der Arena musste zu groß gewesen sein. Cornelius erinnerte sich an ihre Worte. Ja, er hatte ihr Angst einflößen, sie aber doch nicht umbringen wollen.
Dann entdeckte er etwas, was den anderen entgangen war. Der Stein fehlte, und Cornelius wusste, was sie getan hatte.
Da er es seiner Frau nicht vergönnte, zur Märtyrerin erhoben zu werden, und die Leute stattdessen glauben sollten, sie sei aus Feigheit gestorben, verschwieg er die Sache mit dem blauen Stein und ihre heroische Selbsttötung. Er bewahrte Stillschweigen und spielte den trauernden Ehemann.
Cornelia indes, rasend vor Kummer, gab ihrem Vater die Schuld an der Tragödie. Sie verbot ihm, die Mutter einzuäschern, und ließ Amelia in einem Grab zur letzten Ruhe betten, das einem Haus glich, mit blinden Fenstern, Türen und einem Garten. Aus persönlicher Rache an ihrem Vater trat sie zum Christentum über, obwohl sie nicht daran glaubte, hielt Andachten in ihrem Haus ab und demonstrierte christliches Handeln, bis sie eines Tages tatsächlich bekehrt war. Von ihrem neuen Glauben beseelt, kämpfte sie darum, die Erinnerung an ihre Mutter wach zu halten, und führte den Tag ihres Märtyrertodes als Gedenktag für die Christen ein. Cornelias Tochter – am Jahrestag von Cornelius’ Rückkehr aus Ägypten geboren, als dieser die Halskette der ägyptischen Königin mitbrachte
– wurde ebenfalls bekennende Christin und eine herausragende Geistliche. Cornelia ließ ein silbernes Reliquiar für die sterblichen Überreste ihrer Mutter anfertigen, und in einem großen Festakt wurden die in Tuch gehüllten Gebeine vor Hunderten von Christen ehrfürchtig in das Reliquiar umgebettet, das dann in einem Schrein aufgestellt und für jedermann zugänglich gemacht wurde.
Im hohen Alter folgte Cornelia ihrer Mutter in den Märtyrertod, als ihr unter Kaiser Domitian bei einem Spektakel im Circus die Zunge ausgerissen wurde.
Cornelius, dem der Tod seiner Gattin keinen besonderen Verlust bedeutete, wurde endlich zum Konsul ernannt und glaubte, als Namensgeber eines Amtsjahres in die Geschichte einzugehen.
Unglücklicherweise übernahmen nach Neros Tod andere Herrscher die Macht, und die Namen der Konsuln gerieten in Vergessenheit.
Während Cornelius’ Gattin als Märtyrerin Berühmtheit erlangte und sogar eine Kirche nach ihr benannt wurde, verschwand der Name Cornelius Gaius Vitellius aus den Geschichtsbüchern. Im goldenen Zeitalter unter Mark Aurel wurden die Gebeine der heiligen Amelia in eine neu errichtete Kirche überführt. Hier ruhte sie in Frieden, und ihre Anhängerschar gedachte jedes Jahr ihres Märtyrertodes, bis die letzte und grausamste Christenverfolgung unter Kaiser Diokletian im Jahre 303 n. Chr. einsetzte. Mit einem Edikt verbot der Kaiser die christlichen Gemeinden; Kirchen und heilige Bücher wurden verbrannt, und die Christen mussten ihrem Glauben abschwören.
Jede Weigerung wurde mit dem Tode bestraft. Bei einem Geheimtreffen beschlossen Bischöfe und Geistliche, dass, obwohl der Märtyrertod den unmittelbaren Zugang zum Paradies eröffnete, es für die Weiterführung des Glaubens unabdingbar sei, einige Anhänger am Leben zu erhalten, um das Wort in der Welt zu verbreiten. Diese Missionare wurden durch Los ausgewählt.
Reliquien, Bücher und Kultgegenstände, unter ihnen das silberne Reliquiar mit den Gebeinen der heiligen Amelia, wurden in einer Gewitternacht heimlich aus Rom weggeschafft und auf ein Schiff gebracht.
Durch stürmische See wurden die Gebeine Amelias, der einstigen Gattin des Cornelius Gaius Vitellius, in die römische Provinz Britannien gebracht, wo Christen in einer Ansiedlung namens Portus lebten, die einst eine römische Küstenfestung, inzwischen ein blühender Fischerhafen war.
FÜNFTES BUCH
England
Im Jahre 1022 n. Chr.
Oberin Winifred, die Priorin des Klosters St. Amelia, schaute aus dem Fenster des Skriptoriums und dachte: Frühling! Oh, die wundersamen Farben der Natur, Gottes Pinsel am Werk: blassrosa Kirschblüten, rote und schwarze Maulbeeren, scharlachrote Rotdornbeeren und sonnengelbe Narzissen. Wäre doch nur ihre eigene Farbenpalette dermaßen bunt. Die Illuminierungen, die sie damit schaffen könnte!
Die Farben bestärkten sie in ihrer Hoffnung. Vielleicht würde der Abt ihr ja in diesem Jahr erlauben, das Altarbild zu malen. Ihre Gefühle beruhigten sich wieder. Sie
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