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Kristall der Träume

Kristall der Träume

Titel: Kristall der Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
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Benediktinermönche zwar einer Schweigepflicht während der Arbeit unterworfen, doch das Kopieren von Kirchentexten war keine Beschäftigung, die unbedingt Schweigen erforderte: Einige Mönche hatten mit dem Experiment begonnen, schweigend zu lesen, die meisten aber lasen noch immer so, wie man es jahrhundertelang getan hatte: laut.
    Während die Mönche der Portminster Abtei den eigentlichen Text eines Buches abschrieben, ließen sie Platz an der Stelle, an der der erste Buchstabe einer Seite stehen sollte, denn dieser Buchstabe wurde zuletzt hinzugefügt, und zwar im Kloster St. Amelia. Obwohl die Illuminierungen, nicht die Texte, in ganz England berühmt waren, waren die Mönche diejenigen, die das Lob dafür einsteckten.
    Oberin Winifred nahm dies als gegeben hin, denn sie diente der Kirche, Gott und den Menschen. Dennoch dachte sie bisweilen, dass es schön wäre, wenn man wenigstens einmal das Geschick, Talent und die Hingabe ihrer Schwestern entsprechend erwähnen würde.
    Womit sie wieder beim Thema des Abtbesuchs war. Ihre Traumvision war diesmal so intensiv gewesen, dass sie das Bedürfnis verspürte, mit ihm zu sprechen. Natürlich konnte sie selbst auf keinen Fall zum Abt gehen, sondern musste warten, bis er zu ihr kam. In den ganzen vierzig Jahren, die sie bereits in der Priorei lebte, hatte Winifred sich selten nach draußen gewagt, und wenn, dann nur in die allernächste Umgebung – wenn beispielsweise Mitglieder ihrer Familie starben und auf dem Dorffriedhof beerdigt wurden. Einmal hatte sie auch der Amtseinsetzung von Pater Edman als neuem Abt von Portminster beigewohnt.
    Pater Edman… Wie merkwürdig, dass er gerade an diesem Morgen diesen unangekündigten Besuch abstattete. Konnte sie zu hoffen wagen, dass hier Gottes Hand am Werk war? War es ein Zeichen, dass der Abt endlich nachgeben und ihr ihren Wunsch gewähren würde? Würde er endlich verstehen, dass das Altarbild nichts mit Winifreds eigenem Vergnügen und Stolz zu tun hatte, sondern dass es ein Geschenk für die gepriesene Heilige war, als Dankbarkeit dafür, was diese für Winifred getan hatte?
    Als Winifred noch klein war und zu Hause im Herrenhaus ihres Vaters lebte, hatte sie das unheimliche Gespür besessen, verloren gegangene Dinge wieder aufzufinden – eine Haarnadel, eine Brosche, einmal gar eine Fleischpastete, die ein Hund gestohlen hatte. Ihre Großmutter hatte ihr erklärt, sie habe das »zweite Gesicht« - von ihren keltischen Vorfahren geerbt –, hatte sie aber gleichzeitig gewarnt, darüber Stillschweigen zu bewahren, da man sie sonst für eine Hexe hielte. Winifred hatte ihre hellseherischen Fähigkeiten also für sich behalten, bis das Geheimnis eines Tages zufällig ans Licht kam, als das ganze Herrenhaus bei der Suche nach einem verloren gegangenen Löffel auf den Kopf gestellt wurde.
    Winifred, damals erst vierzehn, hatte den Löffel hinter einem Butterfass »gesehen«. Als man den Löffel in der Tat hinter dem Butterfass fand, verlangte man eine Erklärung von ihr, woher sie das gewusst habe. Da sie es nicht erklären konnte, wurde sie als heimtückische kleine Sünderin hingestellt. Sie empfing eine Tracht Prügel, und der Vater des Jungen, mit dem sie verlobt gewesen war, annullierte die Verlobung und gab als Grund dafür Charakterschwäche des jungen Mädchens an. Damals war Winifred zur Kapelle der heiligen Amelia gegangen und hatte gebetet, sie möge ihr helfen. Während ihre Mutter und Schwestern sich in der Kapelle in ihre Gebete vertieft hatten, war Winifred auf Entdeckungsreise gegangen. Als sie zufällig auf das Skriptorium stieß, wo die Nonnen über ihre Arbeit gebeugt saßen, und ihre Paletten und Farben, ihre Pergamentrollen und Schreibfedern sah, wusste sie, dass dieser Ort auch für sie bestimmt war.
    Winifreds Vater war dem Wunsch seiner Tochter, ins Kloster einzutreten, nur allzu gern nachgekommen, und seither hatte Winifred hier im Kloster gelebt. Es verging kein Tag, an dem sie nicht ein neues Dankesgebet zur heiligen Amelia schickte, die sie vor einem kläglichen Schicksal bewahrt hatte: dem einer Tochter, die man nicht mehr verheiraten konnte, die keine Enkel gebären würde und wenig als Gegenleistung zu ihrem Unterhalt beisteuern könnte; einer Tochter, die sich letztlich als die verachtetste aller wertlosen Kreaturen entpuppen würde, die unverheiratete Tante nämlich, die von der Familie unterstützt werden musste und ihr dies mit schlechter Laune und schlechten Stickereien danken würde.

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