Kristall der Träume
Das Skriptorium im Kloster St. Amelia roch nach Öl und Wachs, Ruß und Holzkohle, Schwefel und Pflanzen. Ein Dunstschleier lag über dem Raum, denn die Öllampen brannten Tag und Nacht, nicht der Arbeit an den Illuminierungen wegen, sondern um den für die Herstellung von Tinte notwendigen Lampenruß zu gewinnen. Die Nonnen stellten auch ihre eigenen Farbstoffe her: Das herrlichste Dunkelblau wurde aus Lapislazuli gewonnen, den es nur im fernen Orient gab; für rote Tinte benutzten die Nonnen Bleioxyd, rote Mennige oder zerstoßene Kermesschildläuse. Dann gab es da noch Farben, die nur innerhalb der Klostermauern entstanden und deren Herstellung für die Außenwelt ein Geheimnis blieb. Oben am Tisch in der Mitte saß Schwester Edith, die ein wahres Talent zum Auftragen von Blattgold besaß, der ersten Stufe bei der Gestaltung einer Illuminierung. Man musste schon ein Händchen dafür haben, erst den Kreidegrund anzulegen und darauf dann das Blattgold aufzutragen, sowie ein scharfes Auge, um festzustellen, wann die Grundlage gerade noch feucht war, sie dann anzuhauchen, das Seidentuch ganz sacht darauf zu drücken und mit dem Polierbein leicht wie eine Feder darüber zu gleiten. Ging man ungeschickter vor oder konnte man nicht mehr so gut sehen wie Schwester Edith, fiele die Blattgolddekoration längst nicht so fein aus. Eine andere Schwester malte gerade eine Miniatur von Adam und Eva im Paradies. Beide waren nackt, beide weiblicher Gestalt mit gerundeten Hüften und einem Bäuchlein, denn die Nonne hatte keine rechte Vorstellung, wie ein nackter Mann aussah. Was die Genitalien anging, so waren Feigenblätter ein Geschenk des Himmels, da die Schwestern nicht wussten, wie Männer unter ihrer Kleidung beschaffen waren. Selbst Oberin Winifred war trotz ihres Alters Novizin in Sachen menschlicher Anatomie, da sie nie bei einer Geburt geholfen oder anderweitig eine Frau in unbekleidetem Zustand gesehen hatte. Sie kannte die Metaphern: der Schlüssel des Mannes für das Schlüsselloch der Frau, sein Schwert in ihre Scheide und so weiter. Was es jedoch mit dem Beischlaf und der Zeugung auf sich hatte, entzog sich Oberin Winifreds Kenntnis. Sie dachte nie über Geschlechtliches nach, überlegte nie, ob sie etwas versäumt hatte. Soweit sie wusste (den Geschichten nach zu urteilen, die sie von Besucherinnen im Kloster gehört hatte), war Sex für Männer als Vergnügen und für Frauen als Elend geschaffen worden. Sie erinnerte sich an die Hochzeit ihrer Schwester und wie die Cousinen ihr beim Packen für ihre Hochzeitsreise geholfen hatten: Die Mädchen hatten angesichts des chemise cagoule gekichert, einem voluminösen Nachtgewand mit einem kleinen Loch vorn, das den Zeugungsakt mit minimalem Körperkontakt gewährleistete. »Warum legt Ihr nicht eine kleine Ruhepause ein?«, sagte Winifred zu der ältlichen Nonne, die im Begriff war, die Schlange zu malen. »Es tut mir Leid, dass ich so lange brauche, Mutter Oberin, aber meine Sehkraft… «
»Dagegen sind wir alle nicht gefeit. Legt Euren Pinsel beiseite und schließt kurz die Augen. Vielleicht helfen auch ein paar Tropfen Wasser.«
»Aber der Ehrwürdige Abt hat gesagt – «
Winifred schürzte die Lippen. Hätte der Abt bei seinem letzten Besuch doch nur nicht so laut über das immer langsamere Voranschreiten der Arbeit lamentiert. Es war unnötig, ihre Schwestern mit Kritik zu verunsichern. Zudem konnte man gegen die Beschwerden nichts machen. Agnes kam in die Jahre, daran ließ sich nichts ändern, und es war zu erwarten, dass sie mit der Arbeit nicht mehr ganz so schnell vorankommen würde.
»Macht Euch keine Sorgen um den Ehrwürdigen Abt«, entgegnete Winifred sanft. »Es ist nicht Gottes Wunsch, dass wir uns zu Tode arbeiten und ihm nicht mehr dienlich sein können. Ruht Eure Augen aus und fahrt später mit der Arbeit fort.« Im Geiste setzte sie ein weiteres Anliegen auf ihre Liste, die sie dem Abt vorlegen würde: eine Augentinktur für Schwester Agnes. In diesem Moment rief leises Glockengeläut die Klosterinsassen zur Terz, der dritten der sieben kanonischen Stunden, die im Laufe des Tages Gebeten und Kirchenhymnen gewidmet waren. Die Nonnen legten sorgsam ihre Pinsel und Federn nieder, flüsterten ein Gebet über ihrer unvollendeten Arbeit, bekreuzigten sich und verließen geräuschlos eine nach der anderen das Skriptorium. Nachdem sie durch den jahrhundertealten Kreuzgang gehuscht waren, versammelten sie sich im Altarraum, dem Herzstück ihrer Kapelle:
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