Kristall der Träume
Im Osten stand der Altar, wo die Schwestern die Messe zelebrierten; im Westen lag hinter einem Holzlettner das Mittelschiff, wo Dorfbewohner, Pilger und Gäste des Klosters beim Messgottesdienst zusammenkamen. Die Kapelle, ein kleines, bescheidenes Steingebäude, bildete den Mittelpunkt der einfachen Bauten, aus denen die dreihundert Jahre alte Priorei St. Amelia bestand. Die Nonnen, die das Gelübde des heiligen Benedikt abgelegt hatten, das Schweigen, Zölibat, Entsagung und Armut beinhaltete, schliefen in Zellen in einem Dormitorium und nahmen ihre Mahlzeiten im großen Refektorium ein. In einem etwas ansprechenderen Schlafsaal waren diejenigen untergebracht, die keinen Nonnenstatus hatten, aber auf Dauer im Kloster lebten: wohlhabende Damen, die sich vom Leben zurückgezogen hatten. Für Gäste und Pilger gab es ein Gästehaus (das dieser Tage allerdings leer stand). Neben der kleinen Kapelle lag der Kapitelsaal, in dem die Nonnen zusammenkamen, die Ordensregeln lasen und ihre Sünden beichteten. Und dann gab es noch das Skriptorium, wo sie den Großteil ihrer Zeit verbrachten.
Diese Gebäude gruppierten sich um den rechteckig angelegten Kreuzgang mit Säulenbögen, wo die Schwestern ihren Exerzitien nachgingen. Hinter diesen kalten, grauen, schweigsamen Mauern also entstanden die einmaligen, unwirklich schönsten Manuskripte ganz Englands.
Winifred betrachtete die Hand voll Schwestern, die sich nacheinander auf der Chorbank zum Singen niederließen – einstmals war es eine große Gruppe gewesen, doch nun konnte man die Schwestern, gebrechlich, alt, keine einzige junge Novizin darunter, an den Fingern abzählen. Gleichwohl inspizierte Winifred, streng auf Disziplin bedacht, ihre Nonnen jeden Morgen, um sich zu vergewissern, dass ihr Habit makellos war: schwarzes Überkleid, Brusttuch und Schleier; weiße gestärkte Haube, Nonnenschleier und Stirnbinde. Bei rauem Wetter oder für die seltenen Besuche außerhalb der Klostermauern trugen sie schwarze Umhänge mit Kapuzen. Jede Nonne hatte einen Seilgürtel um die Taille gebunden, an dem ein Rosenkranz und ein Brotmesser hingen. Da man ihre Hände nicht sehen sollte, verschränkten die Nonnen die Arme in den Ärmeln des Habits hinter dem Skapulier in Taillenhöhe. Die Augen waren stets demutsvoll auf den Boden gerichtet. Reden war zwar erlaubt, doch nur leise und nicht im Übermaß.
Wie überall in England, stand der Konvent nur adligen Damen offen. Frauen aus dem Bürgertum durften kaum Hoffnung hegen, von einem Orden aufgenommen zu werden, und Frauen der untersten Schicht war dies gänzlich unmöglich. Winifred hätte gern wohlhabende Damen des Bürgertums, die sich zur Nonne berufen fühlten, aufgenommen und gelegentlich vielleicht sogar eine Bauerstochter. Doch Regeln waren Regeln. St. Amelia konnte auch Schülerinnen aufnehmen – zum einen die Töchter reicher Barone, die im Kloster Sticken lernen sollten und auch gutes Benehmen, wie man knickste und einen Tisch deckte, und zum anderen Schülerinnen mit großzügigen Vätern, die im Kloster Latein lesen und schreiben und die Grundbegriffe der Mathematik lernten, sodass sie eines Tages einem Haushalt vorstehen konnten. In früheren Jahren hatte St. Amelia auch wohlhabenden Witwen als Refugium gedient sowie Frauen, die finanziell dazu imstande waren, sich vor ihren Ehemännern oder Vätern ins Kloster zurückzuziehen und in dieser von Männern und männlicher Dominanz freien Zufluchtsstätte zu leben.
Einst war St. Amelia ein blühendes Gemeinwesen von fast sechzig Seelen gewesen. Nun waren es nur noch elf, einschließlich Oberin Winifred selbst.
Von den anderen zehn hatten sieben das Nonnengelübde abgelegt. Zwei waren betagte Adelsdamen, die schon zu lange hier gelebt hatten, um in einen anderen Konvent zu übersiedeln, und dann war da noch Andrew, der alte Hausmeister, der seit dem Säuglingsalter im Kloster lebte, nachdem man ihn in einem Korb an der Pforte hatte stehen lassen.
Warum es mit St. Amelia bergab ging, lag an dem neuen, zehn Meilen entfernten Kloster, das vor fünf Jahren gebaut worden war und das eine sehr viel wichtigere Reliquie beherbergte als die Gebeine einer Heiligen. Das neue Kloster zog nicht nur Novizinnen, adlige Damen und Schülerinnen an, sondern auch Pilger und Reisende, die die Räumlichkeiten und Säckel des Klosters des Wahren Kreuzes füllten. Winifred versuchte, nicht an die leeren Schreibpulte in ihrem Skriptorium zu denken, an die seit langem ausgetrockneten
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