Kristall der Träume
Tintenfässer und an die noch verbliebenen Schwestern, die sich mit den Illuminierungen abmühten und wie sie selbst allmählich älter wurden. Das Kloster St. Amelia hatte Schülerinnen und Novizinnen an das Kloster des Wahren Kreuzes verloren, da Letzteres von unglaublichen Heilungen zu berichten wusste – von unfruchtbaren Ehefrauen, die schwanger wurden, von Baronen, die ein Vermögen erbten. Nach den Worten des Abts war es schon eine geraume Zeit her, dass St. Amelia Ähnliches vorweisen und Wunder bewirken konnte. Winifred aber war der festen Überzeugung, dass Amelia tagtäglich Wunder vollbrachte –
sprachen die Illuminierungen denn nicht für sich selbst?
Gleichwohl waren die Pilger ausgeblieben. Wie konnte man mit dem Wahren Kreuz mithalten? Selten suchten Pilger beide Reliquienschreine auf – wenn man einer Segnung oder einer Wunderheilung wegen Meilen zurücklegte, würde man einen Splitter vom Baum vom Leiden Christi den Gebeinen einer Frau vorziehen –, und so geriet St. Amelia im Lauf der Jahre immer mehr in Vergessenheit.
Und überhaupt: Wie konnte man mit Jugend und Reichtum konkurrieren? Winifred war jetzt Mitte fünfzig und hatte so gut wie keine Familie mehr. Solange ihr wohlhabender Bruder, ein Mann mit Beziehungen bis in die höchsten politischen Kreise, seine schützende Hand über sie hielt, war ihre Stellung gesichert. Nun war er jedoch tot, ihre Schwestern und Schwager ebenfalls, und ihre Familie – das, was noch davon übrig war – besaß keinen roten Heller. Das neue Kloster hingegen wurde von Oswald von Mercia, dem Vater der neuen Priorin, unterstützt, der sehr reich und sehr großzügig war.
Und natürlich konnte sich das Kloster der vollen Unterstützung durch die Abtei sicher sein.
Die Portminster Abtei, hoch oben auf einer Anhöhe mit Blick auf die Kleinstadt Portminster und den Fluss Fenn gelegen, hatte ihren Ursprung in einer im Jahre 84 n. Chr. entstandenen römischen Garnison. Im Laufe der Zeit hatte sie sich zu einer Hafenstadt mit dem treffenden Namen Portus entwickelt, die für ihren geschützten Hafen und einen lebhaften Handel mit Aal berühmt war, einer Industrie, die sich bis zu Winifreds Tagen behauptet hatte. Im vierten Jahrhundert hatten Christen, von Kaiser Diokletian verfolgt, die Gebeine der heiligen Amelia von Rom nach Portminster überführt.
Eine Gruppe von Einsiedlermönchen, die in einem monasterium außerhalb von Portus lebten, nahm die Heilige auf der Flucht mit offenen Armen auf und gab ihren Überresten die ersehnte Ruhestätte.
Über die Jahrhunderte veränderte der angelsächsische Einfluss das Wort monasterium zu mynster, und als eine neue Kirche gebaut wurde, gab man ihr den Namen Portus Mynster. Im Jahre 822
plünderten Dänen Portminster und brannten die Kirche nieder, doch die Gebeine der heiligen Amelia wurden erneut gerettet und in einer kleinen Gemeinschaft von Klosterfrauen versteckt, die in einer nahen Priorei lebten.
Ein Jahrhundert später, als Benediktinermönche sich in der Gegend niederließen und eine Abtei in Portminster bauten, wurde auch die Frage erörtert, was mit den Gebeinen der heiligen Amelia geschehen solle. Man entschied schließlich, sie weiterhin in der einfachen Priorei zu belassen – hatte sich doch der Ruf über die Wunder der gepriesenen Heiligen weit verbreitet, die diese in der Priorei vollbrachte und die Pilger und Besucher von nah und fern anzogen. Wie es hieß, sei Amelia als Schutzheilige von Brusterkrankungen in der Lage, so ziemlich alles heilen zu können, von Lungenentzündungen bis zu Herzversagen – und einige behaupteten sogar, dass die Gesegnete selbst andere »Beschwerden des Herzens«, nämlich Liebeskummer, kuriere. Als Folge davon hatten sich Ruhm und Reichtum der Priorei gemehrt. Zur gleichen Zeit hatte sich die Portminster Abtei, die acht Meilen entfernt lag und der die Priorei unterstand, ihren eigenen einzigartigen Ruf erworben, kostbare illuminierte Manuskripte herzustellen.
Während die Nonnen die Psalmodie für die Terz rezitierten, schweifte Winifreds Blick zum Altar, wo der kleine Reliquienschrein mit den Gebeinen der heiligen Amelia stand. Sie stellte sich ihr Altarbild dahinter vor: ein Triptychon mit drei goldgerahmten Holzaufsätzen, jeder Aufsatz vier Ellen hoch und drei Ellen breit.
Auf dem ersten würde sie Amelias Übertritt zum christlichen Glauben darstellen; auf dem zweiten ihre Missionen für die Armen und Kranken; und auf dem dritten schließlich Amelia selbst, die
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