Kristall der Träume
Gestalt, auf die der flackernde Schein einer Kerze fiel. Winifred, auf den Knien.
Nie zuvor hatte sie sich so verzweifelt gefühlt. Der Tag, der mit so vielen Farben und Verheißungen begonnen hatte, war nun so trostlos wie ein englischer Winter. Das einzige Zuhause, das sie kannte, verlassen zu müssen! In diesem späten Abschnitt ihres Lebens damit anzufangen, lebenslange Erfahrung, über Jahre erworbenes Wissen an junge Mädchen weiterzugeben. Ihren eigenen lieben, ältlichen Schwestern erklären zu müssen, dass sie in unvertraute Unterkünfte überwechseln würden, wo sie sich nach Jahren eingespielter Lebensweise neuen Gewohnheiten anpassen müssten. Wie konnte es nur so weit gekommen sein? Zählten Jahrzehnte des Dienens denn überhaupt nichts?
Das Schlimmste aber, oh, das Schlimmste war, von ihrer geliebten Heiligen getrennt zu werden.
Winifred hatte fast ihr ganzes Leben lang täglich zur heiligen Amelia gebetet. Es verging kein Tag, an dem sie nicht morgens und abends ein Zwiegespräch mit Amelia geführt hätte. Winifred hatte sich nie weit aus dem Klosterbereich herausgewagt, da sie immer in der Nähe ihrer Heiligen bleiben wollte. Amelia verlieh ihr Klugheit und Stärke. Amelia war mehr als eine Frau, die vor tausend Jahren dahingeschieden war, sie war die Mutter, die Winifred kaum gekannt hatte, die Tochter, die sie nie besessen, die Schwestern, die sie auf dem Kirchhof zu Grabe getragen hatte. Und nun, da sie im flackernden Kerzenlicht und von schweigenden Steinmauern umgeben allein in der Kapelle kniete, wurde ihr abverlangt, dass sie sich von Amelia verabschiede. Sie glaubte sich am Rande eines tiefen Abgrunds, und dieses Gefühl erfüllte sie mit blankem Entsetzen.
»Vater Abt«, hatte sie schließlich herausgebracht, nachdem sie sich ob der schrecklichen Nachrichten scheinbar wieder gefangen hatte. »Ich habe über vier Jahrzehnte hier gelebt. Ich kenne kein anderes Zuhause. In diesem Kloster wurde ich mit dem Talent zum Malen gesegnet. Wie kann ich von hier wegziehen? Von der heiligen Amelia getrennt, werde ich meine Begabung verlieren.«
»Unsinn«, hatte der Abt erwidert. »Eure Begabung kommt von Gott. Und Ihr könnt die heilige Amelia immer noch gelegentlich in der Kathedrale besuchen.«
Die heilige Amelia gelegentlich besuchen. Ich werde zugrunde gehen…
In ihrem Herzen tobte ein Kampf. Von klein auf hatte man ihr beigebracht, Vater, Ehemann, Priester und Kirche zu gehorchen.
Doch hatte es Zeiten in ihrem Leben gegeben, da sie vermeinte, bessere Einsichten zu haben und bessere Entscheidungen zu treffen als andere. Wie etwa in der Nacht des Millenniums: Vater Edmans Vorgänger hatte sie und ihre Schwestern angewiesen, zum Gebet die Abtei von Portminster aufzusuchen, wo sie sicher sein würden.
Winifred jedoch, in dem untrüglichen Gefühl, dass sie bei St. Amelia besser aufgehoben wären, hatte sich den Anweisungen des Abtes widersetzt. Wie es sich traf, war es am letzten Abend des alten Jahres in der Abtei zu hysterischen Ausschreitungen, ja sogar zu einem Aufstand mit vielen Verletzten gekommen, da der Abt außer Stande gewesen war, der Situation Herr zu werden. Seine eigene Erregung über das bevorstehende Millennium hatte sich auf die ohnehin nervöse Gemeinde übertragen. Dank Winifreds bewussten Ungehorsams waren ihre Schwestern und adligen Damen jedoch verschont geblieben.
Was aber sollte sie in der jetzigen Situation tun? Sie hob den Blick zum Reliquienschrein auf dem Altar, auf den das Licht der Kerze einen matten Schimmer warf. Die Bürde, sich um sechzig Nonnen, weibliche Gäste und Schülerinnen zu kümmern und dazu noch tagtäglich für das körperliche und geistige Wohlergehen von Pilgerscharen zu sorgen, wog nicht halb so schwer wie die nun auf ihr lastende Verantwortung für ihre auf elf Klosterfrauen geschrumpfte Familie.
Für einen Augenblick erlaubte sich Winifred bittere Gedanken: In Wirklichkeit ging es gar nicht darum, ein hinfälliges Kloster zu schließen, denn mit ein bisschen Geld und den notwendigsten Reparaturen wäre St. Amelia schon geholfen. Es ging vielmehr um Frauen, die ausgedient hatten, denn es lag auf der Hand, was der Abt von Winifred wollte: die jüngeren Schwestern in der Kunst des Illuminierens zu unterweisen. »Lasst Agnes und Edith die müden Hände in den Schoß legen und ihren Lebensabend in Ruhe und Frieden verbringen. Lasst Euch die Last der Arbeit von Jüngeren abnehmen«, waren seine Worte gewesen. Und sie hatte dem entgegengesetzt,
Weitere Kostenlose Bücher