Kristall der Träume
es ihr durch den Sinn. Was war das?
Ein Schauer durchlief sie, während sie allein mit den tausend Jahre alten Gebeinen in der stillen Kapelle kniete. Winifred hatte plötzlich das merkwürdige Gefühl, dass sie nicht mehr allein war.
Sie blickte um sich und sah, dass die Kapelle leer war. Niemand, nichts lauerte im Dunkeln. Dennoch verspürte sie ein Kribbeln im Nacken, als würde ihn jemand sacht anhauchen. Es war jemand da.
Und dann begriff sie es, in einem Moment der erstaunlichsten geistigen Klarheit, die sie je erlebt hatte: Es war die heilige Amelia, die aus ihrem langen Schlaf erwacht war, als ihre Gebeine gestört wurden.
»Bitte vergib mir«, flüsterte Winifred zitternd, während sie überlegte, wie sie die Teile aufsammeln und wieder in den Reliquienschrein legen sollte. Es musste so andächtig und ehrfürchtig geschehen wie nur möglich – und keine Menschenseele durfte davon erfahren. Denn eines wusste sie mit Sicherheit: Nur sie allein war befugt, die Gebeine zu sehen – sonst niemand. Es war ein Zeichen. Die heilige Amelia versuchte ihr etwas zu sagen. Als die Kerze erneut aufflackerte und es wieder in den Halswirbeln glitzerte, streckte Winifred zögernd die Hand aus und berührte mit dem Zeigefinger behutsam die Wirbelsäule aus brüchigem Kalk. Die Wirbel zerbröckelten unter der Berührung, so alt und morsch waren sie. Und während sie so auseinander brachen, wie die Hälften einer Walnuss, gaben sie etwas so Wundersames frei, dass Winifred mit einem Aufschrei nach hinten fiel.
In Amelias Halswirbeln war der herrlichste blaue Stein eingebettet, den Winifred je gesehen hatte.
Sie behielt den Stein, ihr Geheimnis, bei sich, tief in der Tasche ihres Habits verborgen. Den blauen Kristall aus dem Hals der heiligen Amelia. Sie erzählte keiner Menschenseele davon, nachdem sie die Gebeine wieder sorgsam in den Reliquienschrein gelegt und den Schrein auf den Altar zurückgestellt hatte, denn zuerst musste sie über das Geheimnis nachdenken, das sie aufgedeckt hatte.
Warum war der Stein da? Wie war er in den Hals der Heiligen geraten? Und war es ein Zeichen? Was könnte es sonst sein? Die Knochen waren seit Jahrhunderten, gar Jahrtausenden in ihrem Schrein versiegelt gewesen, warum sollten sie diesen Moment gewählt haben, sich preiszugeben? Die Antwort lag auf der Hand: Nachdem der Abt das Kloster wieder verlassen hatte, war Winifred in so tiefe Verzweiflung gestürzt, dass sie ohne weiteres geglaubt hätte, die Sonne würde nie wieder aufgehen. Und da hatte Amelia zu ihr gesprochen. Wie aber lautete die Botschaft? Hatte es etwas mit dem Umzug in das neue Kloster zu tun? Wenn ja, sagte Amelia ihr, sie solle gehen oder bleiben? Nichts hatte je so schwer auf Winifred gelastet wie diese neue Wende der Ereignisse. Die Frauen in ihrer Obhut waren auf ihre richtige Entscheidung angewiesen.
Und wie hilflos sie doch alle waren! Dame Odelyn, zum Beispiel, ältlich und gelähmt, die geduldig am Brunnen wartete, bis jemand vorbeikam und Wasser für sie schöpfte. Odelyn war vor vielen Jahren nach St. Amelia gekommen, nachdem ein Wikingerüberfall ihre gesamte Familie ausgelöscht hatte. Familienschmuck, im Brunnen hinter dem Herrenhaus versteckt, hatte ihr einen Platz auf Lebenszeit im Kloster verschafft. Seit jenem Tag aber, da sie in den Brunnen hatte klettern müssen, um den von ihrem Vater dort versteckten Schatz zu holen – kaum dazu fähig, weil sie gerade erst aus ihrem Versteck gekrochen war und den Schock über ihre niedergemetzelten bewältigen musste –, seit jenem Tag also saß die Angst vor Brunnen tief in Odelyn. Und dann die arme Schwester Edith, die so vergesslich war, dass sie jede Nacht zum necessarium hinausgeführt werden musste, weil sie sich dabei immer verirrte.
Und Agatha, der die Arthritis so zu schaffen machte, dass man ihr beim Essen helfen musste. Die Liste ließe sich noch weiter fortsetzen. Wie konnte Winifred diesen armen Frauen erklären, dass sie aus ihrem gewohnten Leben gerissen und in eine fremde und unbekannte Umgebung verpflanzt werden sollten?
Auf der Suche nach einem Weg aus ihren Gewissensnöten konzentrierte sie sich auf den blauen Kristall. Wenn sie den durchscheinenden Stein gegen das Licht hielt, sah sie Explosionen von Azurit und Aquamarin, Streifen von Himmel- und Kornblumenblau, saphirblaue Seen, türkisfarbene Teiche. Und die Farben wechselten ständig. Sie betrachtete den Stein im Sonnenlicht und bei Kerzenschein, während eines Gewitters und bei
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